Selbstverleugnung ist keine gute Idee, denn die Identität ist eine Hydra!
Warum es sinnlos ist, sich selbst zu bekämpfen.
Wir mögen uns nicht
Keine andere mir bekannte Gruppe hat solche Probleme mit der Akzeptanz des eigenen Soseins, wie Transgender. Wir sehen unsere Transidentität als etwas zu Überwindendes, als Makel, der beseitigt werden muss.
Deshalb ist es für viele von uns so wichtig, dass um Himmels Willen niemand merken darf, dass wir trans sind. Nicht in der Rolle unseres körperlichen Geschlechts und später in der Rolle unserer Identität dann auch nicht.
Wie weit kann die Selbstverleugnung gehen? Wir vertuschen entweder unser Inneres und versuchen dem Anschein des uns bei Geburt zugewiesenen Gender zu genügen. Oder wir verleugnen nach einer Transition unsere Vergangenheit.
Was tun wir uns damit an? Ist das gesund?
Die Hydra!
Die Hydra ist ein sprichwörtliches Gleichnis für Situationen, wo jeder Versuch einer Eindämmung oder Unterdrückung nur zur Ausweitung einer Eskalation führt. Der mythologischen Hydra wuchsen für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue. Die Hydra steht also für das, was man nur kleinhalten kann, indem man es unberührt lässt.
Was ist Identität?
An anderer Stelle habe ich damit theoretischer beschäftigt ( -> Theorien zur Entstehung von Geschlechtsidentität). Hier genügt es allgemeiner.
Schon begrifflich ist Identität eine Übereinstimmung. Für mich ist es die Übereinstimmung meines Wissens von mir selbst mit gesellschaftlichen Gruppen bzw Rollen. D.h. ich sehe bestimmte Modelle und vergleiche sie mit meinem Wissen über mich selbst. So bin ich Deutsche, Radfahrerin, Juristin, usw. Und ich habe eine Vorstellung davon, welches Geschlecht ich habe und welche Genderrolle für mich die passende ist.
Das kommt schon darin zum Ausdruck, dass ich die anderen Gruppenzugehörigkeiten entsprechend gegendert habe. Mein Gender ist also überall dabei, selbst wenn es für die konkrete Rolle gar nicht wichtig ist.
Diese Vorstellung beruht auf einem Wissen über mich selbst, das deutlich umfangreicher ist, als nur der äußere Anschein. Niemand weiß besser wie und damit auch wer ich bin, als ich selbst. Denn niemand kennt mich besser als ich mich.
Identität braucht Bestätigung
Leider reicht es nicht, dass ich selbst weiß, wer ich bin. Menschen brauchen für ihre Meinungen über sich selbst Bestätigung. Ich freue mich, wenn Menschen mich so sehen, wie ich mich selbst sehe, und ich leide, wenn es zu Diskrepanzen kommt.
( -> Ich muss raus!)
Das Gender ist eine der wichtigsten sozialen Rollen in unserer Gesellschaft. In praktisch allen sozialen Interaktionen wird auf Gender Bezug genommen. Deshalb sind Schwierigkeiten an dieser Stelle besonders relevant.
Üblicherweise haben Menschen keinerlei Probleme bezüglich ihrer Geschlechtsidentität, der sie über ihre Genderpräsentation Ausdruck verleihen. Da kann sich die Identität sicher sein. Das innere Empfinden wird durch das Erleben des Körpers und die Bestätigung durch die Umwelt ständig bestätigt. Selbst Zweifel aufgrund von nicht vollständiger Klischeeerfüllung (Du bist kein richtiger Mann, keine richtige Frau …) bleiben an der Oberfläche und gehen nicht ins Grundsätzliche.
Entsprechend zurückhaltend sind diese Identitäten auch. Weil sie selbstverständlich sind, drängen sie sich nicht in den Vordergrund. Sie verlangen nicht nach zusätzlicher Bestätigung. Selbstverständlichkeiten muss man nicht bestätigen.
Für die meisten Transgender ist das anders. Wir haben nicht bloß das Problem der fehlenden Bestätigung. Unsere Identität fühlt sich sogar bedroht! Wenn eine Identität bestritten oder angegriffen wird, dann wird sie übel. Fehlende Bestätigung ist schon schlimm, aber aktive Angriffe sind noch schlimmer. Die machen sie zur Hydra.
Wie und von wem wird die Identität bedroht?
Zuallererst sind es wir selbst. Wir selbst haben Tendenzen, unsere Identität zu unterdrücken und zu verstecken.
Wir nehmen unseren Körper wahr und wissen, was er sozial bedeutet. Doch zugleich fühlen wir, dass das für uns falsch ist. Unser Inneres steht in einem Spannungsverhältnis zu einem als objektiv und richtig empfundenen Äußeren. Ich erlebe die Diskrepanz zwischen meiner Identität und meinem Körper als störend. Ich möchte mich gerne als Frau erleben, doch das fällt mir wegen meines Körpers schwer.
Aber wir unterdrücken unsere Identität (Individualität) auch, um andernfalls drohende Konflikte mit unserem Umfeld (Familie, Freunde, Job) zu vermeiden.
Unser größter Feind
Letztlich ist nicht die Gesellschaft unser schlimmster Feind, sondern wir sind es selbst.
Es war weniger die Gesellschaft selbst, die mich verletzt hat, sondern meine Fantasien darüber, wie sie mich ablehnen würde ( -> Metabild). Vermutlich ist das eher ein Spiegel meiner eigenen Ablehnung. Ich wollte nie ein Mann sein, der eine Frau sein will, sondern eine „richtige“ Frau. Das „als Frau akzeptiert“-Werden war die einzig realistische Option. Wobei, was heißt schon realistisch? Ich habe es über Jahrzehnte für irreal gehalten, jemals als Frau auf die Straße gehen zu können, ohne damit mein Leben in Schutt und Asche zu legen.
Ich habe es sogar lange ausgeschlossen, jemals mit irgendjemandem über das Thema reden zu können.
Viele Jahre lang habe ich gedacht, ich müsste Selbstmord begehen, wenn es jemand herausfände. Weil weiterleben damit, das konnte ich mir nicht vorstellen. Überhaupt war der Suizid immer meine Exit-Option, wenn ich es irgendwann nicht mehr aushalte, mich mit meinem wahren Selbst zu verstecken.
Also habe ich für sehr lange Zeit meine eigene Identität nicht nur vor aller Welt, sondern auch vor mir selbst verleugnet und unterdrückt.
Und wenn ich trotzdem kämpfe? Warum Selbstverleugnung keine gute Idee ist.
Wenn ich mich entschließe, mein unveränderliches Selbst zu bekämpfen oder versuche es zu unterdrücken, dann muss ich mit den Konsequenzen leben.
Ein guter Grund kann z.B. die Liebe zu den Angehörigen sein. Ehepartner/in, Kinder, Eltern wünschen sich natürlich, dass man möglichst gut in der Rolle funktioniert, die man für sie immer hatte. Weil wir diese Menschen lieben, möchten wir gerne so sein, wie die sich das von uns wünschen. Wir nehmen also aus tiefer Überzeugung und den besten ethischen Motiven den Kampf gegen einen Gegner auf, den wir nicht besiegen können. Am Ende werden wir schwer beschädigt sein oder sogar tot. Ob damit die Situation für unsere Liebsten besser ist, bezweifle ich.
Bedrohung durch andere
Doch selbst dann, wenn wir mit uns selbst im Reinen sind, können die meisten Transgender ihrer Identität nicht frei Ausdruck verleihen.
Durch die gesellschaftlichen Konventionen ist die Identität von trans Personen einem dauerhaften Druck ausgesetzt. Es gibt vermutlich keine*n Transgender, die nicht gegenüber der Außenwelt ihre Identität rechtfertigen musste.
Ganz grundlegend liegt das daran, dass Gender beziehungsweise ein mit der körperlichen Erscheinung übereinstimmendes Gender in unserer Gesellschaft als selbstverständlich gesehen wird. Deshalb gehört es sogar zum guten Ton, dass eine Person durch eine entsprechende Anrede gegendert wird, auch wenn das in der konkreten Situation irrelevant wäre. Wir gendern Personen aufgrund ihres Aussehens oder (am Telefon z.B.) nur aufgrund ihrer Stimmlage. Und wir erwarten nicht, dass wir uns dabei irren. Doch während Cis-Personen diese ständige Fremdzuweisung eines Gender selbstverständlich annehmen können, ist das für uns trans Menschen anders.
Das nähere Umfeld
Da sind zunächst die Menschen, die uns nahestehen und es nicht wahrhaben wollen. Je weniger sie „es“ sehen wollen, je intensiver sie es ignorieren und negieren, desto heftiger wird unser Bedürfnis, der Identität Ausdruck zu verleihen. Das liegt daran, dass uns die Meinung anderer Menschen über uns umso wichtiger ist, je näher sie uns sind. Mir ist es jedenfalls ziemlich egal, was fremde Menschen von mir denken. Aber es ist mir sehr wichtig, was meine Familie und meine Freunde von mir halten.
Unser Umfeld, insbesondere die Menschen, die uns am nächsten sind, wünschen sich ebenso, dass wir „normal“ funktionieren. Wir sollen unsere Rollen und Funktionen gut ausfüllen. Im Kern sollen wir die sein, als die uns die anderen kategorisiert haben.
Das bedeutet, dass ich schon große Anstrengungen unternehme, so zu sein, wie die mir wichtigen Menschen sich das wünschen.
Die Allgemeinheit
Und dann gibt es noch den ganzen Rest: Die Menschen, denen wir begegnen und die uns aufgrund unserer körperlichen Erscheinung kategorisieren.
Damit meine ich jetzt vor allem die Situationen, in denen ich erkennbar in weiblicher Rolle anderen gegenübertrete. Das hindert viele Menschen nicht, mir ein männliches Gender zuzuweisen. Es ist nicht bloß nervig, wenn andere Menschen besser zu wissen glauben, wer ich bin als ich selbst. Es ist bedrohlich und macht mich krank.
Durch die ständige Zuweisung des männlichen Gender durch Dritte bin ich dauernden Erschütterungen meines Selbstbildes ausgesetzt. Ich erlebe, dass andere das Falsche in mir sehen. Das Ich von Transgendern muss sich immer wieder gegen die Zuweisung zu einer falschen Gruppe (einem falschen Wir oder auch Ihr) wehren. Ganz unabhängig davon, ob wir uns damit vor der Welt verstecken oder eine Transaktion mit Hormonen, Operationen und offiziellem Wechsel des Personenstands hinter uns haben.
Bedrohte Identität
Im Ergebnis fühlt sich unsere Identität durch Missachtung bedroht. Sie reagiert entsprechend heftig. Bedrohung wirkt auf Identitäten wie Dünger auf Pflanzen: sie werden größer, raumgreifender. Die Identität wird zusätzlich (hier endet die Analogie mit Pflanzen) noch fordernder und aggressiver.
Jeder Kampf gegen eine Identität ist nicht nur von vornherein aussichtslos, er bewirkt auch das Gegenteil des Gewünschten: die Identität wächst durch die Beschäftigung mit ihr und besonders durch jeden Versuch sie zu unterdrücken! In meinem Fall bedeutet das, dass alle meine Versuche, ein normaler, unauffälliger Mann zu sein fehlschlugen. Schlimmer noch, sie haben mich in anstrengende und verletzende Kämpfe mit mir selbst verwickelt.
Persönliche Folgen
Welche Folgen eine unterdrückte Identität hat, ist sehr individuell. Manche von uns suchen Hilfe in Drogen, andere werden körperlich krank. Ich selbst bin nach eigener Einschätzung noch ziemlich gut davon gekommen. Aber auch ich habe Schäden davongetragen.
- Ich konnte andere Menschen nicht gut finden, weil ich mich selbst ablehnte. Ich habe gegen mich gekämpft. Das hat mich gegenüber anderen aggressiv und zynisch gemacht.
- Ich bin misstrauisch, immer auf der Suche nach vermeintlichen Verletzungen, die mir zugefügt werden. Lacht da jemand über mich? ( -> Metabild)
- Das Selbstbewusstsein war bei mir eine Ruine. Wie selbstbewusst kann jemand sein, der selbst über die trivialsten Tatsachen seiner selbst zweifelt? Je weniger Selbstbewusstsein ich hatte, desto robuster und entschiedener bin ich nach außen aufgetreten. Ich wollte keinerlei Verdacht aufkommen zu lassen, wie leicht es doch wäre mich umzuschmeißen.
- Ich wusste nur zu genau, wie unehrlich ich selbst gegenüber den anderen Menschen war. Wie sollte ich dann das Vertrauen haben, dass die anderen mit mir ehrlicher waren?
- Ich habe Teile meiner Lebenschancen dadurch verhunzt, dass ich mich selber „verkrüppelt“ habe. Wenn man häufiger mal zynisch und aggressiv ist, dann ist das nicht gut für die Karriere.
- Selbst heute noch habe ich eine extrem kurze Zündschnur.
Was beruhigt unsere Identität?
Akzeptanz! Selbstakzeptanz und das Erleben der Akzeptanz durch andere.
Wenn ich aufhöre, meine Identität zu bekämpfen, werde ich Frieden haben! Denn diese Bedürfnisse sind viel mehr Ich selbst, als das rationale, denkende Ich, das sich damit auseinandersetzt. Ich muss akzeptieren, dass mein Selbst ist, wie es ist und dass ich seine Bedürfnisse ebenso ernst nehmen und befriedigen muss, wie meinen Hunger und meinen Durst. Ich habe nur die Wahl zwischen Frieden und Krieg. Und den Krieg kann ich nur verlieren.
Identität wird zahmer, wenn sie sich sicher fühlt. Ich habe das gemerkt, nachdem meine Frau für mich spürbarer akzeptiert hatte, dass ich meiner Weiblichkeit nun einmal Ausdruck verleihen muss. Seitdem ist es für mich tatsächlich weniger wichtig geworden, jede Gelegenheit zur Genderpräsentation und vielleicht auch –provokation zu nutzen. Ich kann es auch mal gut sein lassen, weil ich mir sicherer bin, dass die grundsätzliche Akzeptanz davon nicht gestört wird.
Die wichtigste Lektion habe ich erst ziemlich spät gelernt und kann sie immer noch nicht von ganzem Herzen glauben: den meisten Menschen ist es egal in welcher sozialen Geschlechtsrolle ich mich ihnen präsentiere. Die interessiert mehr, ob ich nett bin, interessant, unterhaltsam, ehrlich. Ob ich körperlich Mann oder Frau bin oder welche Genitalien ich habe, ist meist nicht von Interesse.
Selbstverständlich sollte man nicht naiv sein. Handlungen haben Folgen. Aber gewisse Risiken muss man eingehen, wenn man nicht dauerhaft mit der eigenen psychischen und körperlichen Gesundheit bezahlen will.
Was bleibt?
Scham überwinden und die eigenen Bedürfnisse akzeptieren. Sich selbst nicht dafür verurteilen, dass man ist, wie man ist.
Wenn wir versuchen, unsere Bedürfnisse zu ignorieren, werden sie immer stärker. Hunger oder Durst kann man schließlich auch nicht dadurch beseitigen, dass man sie ignoriert. Deshalb ist Transsein nicht heilbar. Jeder Versuch, es zu beseitigen oder zu mildern, macht es nur präsenter.
Ganz kurz
Ich bin so und das kann ich nicht ändern. Das kann ich weder ignorieren noch unterdrücken, sondern ich muss es akzeptieren und dem Rechnung tragen.
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