Die Kategorien, die uns beschreiben, sind falsch!
Als Betroffene mache ich mir natürlicherweise viele Gedanken über das Wie und Warum meiner Neigung. Entsprechend interessant finde ich die verschiedenen Ansätze der Klassifikation, weil ich über die Zuordnung zu einer Kategorie hoffe, mich selbst besser zu verstehen.
Und je mehr ich mich mit den gängigen Ansätzen beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, dass sie an zentraler Stelle falsch sind!
Der übliche Zugang
Die gängigen medizinischen Kategorien bzw. Fachbegriffe, mit denen Menschen wie ich bezeichnet werden, sind „Transsexuelle“ und „Transvestit“.
Bei meinen Recherchen habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Forschung zu den Themen Transidentität und Crossdressing (vorsichtig formuliert) noch nicht sehr ausgereift ist. Die Psychologie selbst ist eine junge Wissenschaft, in der es noch viele Vermutungen und wenig Gewissheiten gibt. Und unsere Thematik ist eine komplexe und weil nur eine relativ kleine Gruppe betreffend nicht übermäßig wichtige Seitenthematik, die dementsprechend theoretisch noch viel weniger durchdrungen ist.
Seit Freud ist es in der Psychologie überwiegend anerkannt, dass die große Kraft hinter unserem Sein und Tun der Geschlechtstrieb ist. Unsere Libido prägt unsere Wünsche und unser Verhalten. Vieles lässt sich damit auch tatsächlich erklären, aber ich möchte im folgenden daran zweifeln, dass sich wirklich alles damit erklären lässt. Manchmal, das hat Freud selbst erkannt, ist eine Zigarre nichts anderes als eine Zigarre.
Magnus Hirschfeld (1868 – 1938) war der Pionier der modernen Forschung über transidente Menschen. Er prägte den Begriff des Transvestiten. Harry Benjamin (1885 – 1986) verdanken wir die begriffliche Unterscheidung in Transvestiten einerseits und Transsexuelle andererseits. Innerhalb dieser Gruppen wurde dann noch ein wenig weiter differenziert, doch im Wesentlichen blieb es dabei.
Ich will nicht auf die Details eingehen, denn da ist vieles streitig, aber wenn ich von oben drauf gucke, gibt es für die Kategorisierung und dementsprechend die Frage, unter welchem Begriff ich mich wiederfinde ein omnipräsentes Kriterium: die sexuelle Erregung.
Bei Benjamin war es noch ganz einfach: mit Erregung TV, ohne TS.
Die genannten Unterscheidungen werden von den Taxonomien der WHO (ICD10) und der American Psychiatric Association (DSM-IV) nachvollzogen.
Die Frage der auto/-erotischen Aspekte ist also kategoriell wichtig. Das führte z.B. in den „standards of care“ dazu, dass Transgender, die GAOP anstrebten, ihren Psycholog/innen verklickern mussten, dass sie keinesfalls durch das Tragen weiblicher Kleidung erregt sind, sonst hätten sie nämlich ihre Einordnung als Transsexuelle und in der Folge ihren angestrebten dauerhaften Wechsel der Geschlechtsrolle in Frage gestellt. Denn die sexuelle Erregung macht eine transidente Person kategoriell zum Transvestiten.
Anders (aber keinesfalls besser) ist es beim recht neuen Konzept der Autogynäphilie (mit dem ich mich an anderer Stelle ausführlicher befasse). Bei dem wird (verkürzt dargestellt) allen heterosexuellen Transgendern unterstellt, sie würden nichts anderes als einen sehr seltsamen Fetisch leben. Auch hier dreht sich wieder alles um die Sexualität.
Die Folgen
Du sagst jetzt vielleicht: Okay, wenn das der Dreh- und Angelpunkt deiner Besonderheit ist, dann ist das eben so.
Aber mich nervt es massiv!
Warum?
Weil jede/r dem ich mich offenbare, durch die Kategorisierungen früher oder später anfängt sich über meine sexuellen Gewohnheiten Gedanken zu machen. Vielleicht tut er es tatsächlich nicht, aber ich habe die Angst, dass er es tut. Ich habe die Befürchtung, dass jede Erwähnung bestimmter Begriffe, wie insbesondere des Wortes „Transvestit“, potentiell Gedanken darüber auslöst, ob ich wohl Frauenkleidung nur deshalb trage, weil ich sie brauche „um einen hoch zu kriegen“.
Und ich bin misstrauisch, ob ich von sittenstrengen und gebildeten Menschen mit einem gewissen Abscheu betrachtet werde, weil sie davon ausgehen, dass ich das alles tue, um mir bildlich und belustigend gesprochen hinterher oder gar während ich unterwegs bin „einen von der Palme zu schütteln“ bzw. „den Lurch zu würgen“.
Wenn ich mich als Frau in der Öffentlichkeit bewege, dann hat meine Scham und meine Angst, als Mann erkannt zu werden, vor allem damit zu tun, dass ich mich über die gängigen Beschreibungen zum Begriff „Transvestit“ in gängigen Lexika in eine Ecke gedrängt sehe, in der ich mich nicht wohl fühle. Wegen der weitgehenden Identifikation meines Tuns mit Fetischismus befürchte ich, dass mein Verhalten als besondere Form der Befriedigung des Geschlechtstriebs eingeschätzt wird.
Falls du meinst, dass ich da übertreibe, dann frage doch mal eine beliebige Person, warum ein Transvestit Frauenkleider trägt. Und? Hat die Person gesagt: „Weil er den Zwang fühlt, seine weibliche Seite zu leben“? Oder kam etwas anderes zur Sprache? Na bitte! Und damit kann ich mich, obwohl ich mich nicht als transsexuell verstehe, ebenso wenig anfreunden wie eine Transsexuelle. „Nicht anfreunden“ ist übrigens eine meinen sprachlichen Ansprüchen geschuldete Untertreibung. Ich sollte wohl besser sagen: es kotzt mich an. Doch das wäre nun wirklich nicht ladylike.
Übrigens hat für die TG-Community (wenn es sie denn überhaupt gibt) die zentrale Stellung des Themas „sexuelle Erregung“ ebenfalls negative Folgen. Die „sauberen“ TS, für die häufig tatsächlich Erregung kein Thema ist, fühlen sich durch die fetischistisch orientierten TV in der Ernsthaftigkeit und Moralität ihres Anliegens diskreditiert.
Dabei kommt es nicht mal darauf an, ob jemand tatsächlich Erregung verspürt. Die Vermutung reicht schon aus. Schon tut sich die Kluft zwischen ernstzunehmendem Leiden und lustorientiertem Verhalten auf. Denn so wie die Dinge gesehen werden, ist die Erregung der Auslöser. Nach dieser Sicht der Dinge ist Crossdressing das Mittel zum Zweck der Triebbefriedigung. Klar, dass eine Transsexuelle, die mit der weiblichen Rolle keine Lust verbindet, sich durch die Nähe zu Leuten, die sie selbst eventuell nur als „perverse Lüstlinge“ sehen kann, in ihrer Ernsthaftigkeit diskreditiert sieht.
Die enge Verbindung des Transvestitismus mit Fetischismus ist eine Bürde, die die Beziehungen in der kleinen Gemeinschaft der Transgender belastet.
Der richtige Zugang: Identität!
Okay, das war der Stein des Anstoßes.
Weil es mich nervt und weil ich als Betroffene weiß, wie ich mich fühle, kann ich auch kompetent darüber nachdenken. Und ich habe die Motivation es zu tun.
Allerdings gibt es hier noch ein Problem, dass ich offen ansprechen möchte: Ich bin nicht glaubwürdig! Das sage nicht ich von mir, ich habe schon den Anspruch glaubwürdig zu sein und behaupte es auch von mir. Aber kann man mir glauben? Es gibt den Spruch, dass Psychologie einfach wäre, wenn die Leute die Wahrheit sagen würden. Das gilt ganz speziell auch im Bereich der Transgenderforschung.
Auf einer ersten Ebene behaupten die Wissenschaftler, dass man, wenn man als Betroffene von sich spricht, nicht immer alles erzählt oder auch mal lügt. Das ist nicht ungewöhnlich, geht es doch thematisch um Verhaltensweisen, die niemand gerne von sich rumerzählt. Aber selbst, wenn ich als Betroffene glaube aufrichtig und vollständig zu sein, gibt es noch Haar in der Suppe. Ich kann mich schon selbst belogen haben. Was ich ernsthaft für mein wirkliches Erleben halte, ist vielleicht nur die von meinem Unterbewusstsein vorab geschönte Version, damit mein Bewusstsein besser damit zurecht kommt. Was mich wirklich treibt, dass weiß dann nur mein Psychologe/Psychotherapeut. Aber auch nur, wenn er gut ist.
Trotzdem versuche ich im folgenden, so ehrlich ich es nur kann, mein den existierenden wissenschaftlichen Erklärungen zuwiderlaufendes Empfinden entgegenzustellen.
Identität geht der Sexualität voraus
Aus meiner eigenen Biografie (und auch der vieler anderer Transgender) weiß ich, dass das Bedürfnis sich weiblich zu fühlen schon zu einer Zeit in meinem Leben existierte, als ich noch nicht einmal wusste, dass es so etwas wie sexuelle Erregung überhaupt gibt. Das ist zwar kein zwingendes Argument, weil vorpubertäre Sexualität auch dann existieren kann, wenn sie dem Kind nicht bewusst ist. Aber es ist für mich zumindest ein Indiz, dass kein zwingender Zusammenhang besteht.
Bis vor kurzem war die sexuelle Orientierung ähnlich kategorisierend. Das TSG geht (siehe § 7 Absatz 1 Nr. 3 TSG) tatsächlich davon aus, dass eine TS, die sich sexuell und in der Partnerschaft zu Frauen hingezogen fühlt, eigentlich nicht als Frau fühlt, sondern wieder in ihre männliche Rolle zurück will(i). Dass das Quatsch ist, werden mir außer dem BVerfG wohl auch viele Transsexuelle bestätigen.
Vielleicht ist es mit der sexuellen Erregung genau so. Könnte es nicht sein, dass die ganze Erregungsthematik nur zufällig mit bestimmten Typen transidenter Menschen korreliert? Also, dass der Ursache-Wirkungszusammenhang bisher falsch herum gesehen wird? Wenn ich die theoretische Debatte richtig verstanden habe, dann wird gefolgert, dass bei fetischistischen Transvestiten (und letztendlich werden praktisch alle Transvestiten in diese Kategorie gesteckt) die weibliche Kleidung und auch Rolle angestrebt wird, weil es erregend ist.
Und wenn es genau andersherum ist? Wenn die Erregung deshalb da ist, weil weibliche Kleidung und Rolle ein anderweitig motiviertes, umfassendes Wohlgefühl verschafft, das sich (unter anderem!!!) in Erregung äußern kann.
Hier kann ich nur von meinen eigenen Empfindungen her argumentieren. Einfach gesagt: weil es mir so wichtig ist, mich als weibliches Wesen zu denken! Weil mein Denken sich im Wachen und Träumen ständig um diese Thematik dreht und es das wichtigste Thema in meinem Leben ist. Deshalb emotionalisiert mich gelebte und gefühlte Weiblichkeit manchmal (aber sicher nicht immer) bis hin zur sexuellen Erregung, also auf allen Ebenen, auf denen ein Mensch Freude empfinden kann. Die Erregung ist lediglich eine Folge (unter verschiedenen anderen) meines So-Seins. Bei anderen ist der Drang eine Frau zu sein bzw. sich weiblich zu fühlen vielleicht sogar viel stärker als bei mir, doch es erregt sie kein bisschen. … Vielleicht bloß weil sie im Gegensatz zu mir keine autoerotische Saite haben, die zum Klingen gebracht werden kann. Oder vielleicht weil sie generell eher asexuelle Wesen sind.
Noch mal in aller Deutlichkeit: ich bestreite nicht (dazu wäre ich auch nicht berufen), dass Crossdressing mit Erregung einhergehen kann. Ich bestreite „nur“, dass es die Erregung die Ursache des Ganzen ist. Ich behaupte stattdessen, sie ist lediglich eine Begleiterscheinung, so etwas wie ein Symptom.
Ein Vergleich: Es gibt viele verschiedenartige Krankheiten (ich weiß, es ist immer tückisch im Transgenderbereich den Vergleich zu Krankheiten zu strapazieren, tue es aber trotzdem), die alle als Symptom Schmerzen haben (Knochenbruch, Blinddarmentzündung, Krebs, Verbrennung). Doch niemand wird (zumindest in der Schulmedizin) auf den Gedanken kommen, dass man die Vielfalt der Krankheiten sinnvollerweise nach „Schmerzenden“ und „Nicht-Schmerzenden“ kategorisiert.
Wieso ist also die bei einigen vorhandene und bei anderen eben nicht vorhandene Erregung im Zusammenhang mit Crossdressing so zwangsläufig ein kategorisierendes Merkmal? Der präzise Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ist, so weit ich weiß, nicht nachgewiesen. Klar ist nur, das eine tritt bei manchen Menschen zusammen mit dem anderen auf. Doch es ist weder klar, ob Erregung tatsächlich die Ursache ist, noch wie die beiden Dinge überhaupt zusammenhängen.
An dieser Stelle sollte ich betonen, dass ich sexuelle Beweggründe zum Tragen weiblicher Kleidung nicht schlimm finde. Das ist okay. Es ist nicht besser oder schlechter als das Bedürfnis „seine feminine Seite zu leben“, das häufig von Transgendern als Begründung für ihr Tun genannt wird. Es ist gleichermaßen akzeptabel sich als Frau zu fühlen, wie weibliche Kleidung als Fetisch zu haben.
Ich kann (und auch dafür schäme ich mich) den Aspekt der Erregung für mich nicht gänzlich abstreiten. Doch, da ist etwas. Aber es ist nach meinem Erleben nicht der Kern des Ganzen, sondern ein nicht zwangsläufig auftretender Nebeneffekt. Deshalb ist es aus meiner Sicht demütigend und schlicht falsch, dass dieses Thema so ins Zentrum der Vorstellungen über Transgender insgesamt gerückt wird.
Aus diesem Grund vermeide ich auch für mich den Begriff Transvestit. Ich bevorzuge den weniger belasteten, weil in der medizinischen Kategorisierung nicht verwendeten Begriff Crossdresser. Virgina Prince, die Gründerin von Tri-Ess, hat diesen inzwischen etablierten Begriff eigens geprägt, um sich selbst in der strikten Trennung zwischen fetischistisch-autoerotischen Transvestiten und asexuellen Transsexuellen wiederfinden zu können. Er bezeichnet das, was ich tue, und hat keine direkten Nebenbezüge zu der Frage, ob mich das, was ich aus einem inneren Zwang heraus tue, eventuell auch auf einer erotischen Ebene berührt.
Für mich steht im Zentrum meiner Besonderheit nicht die Frage der Sexualität, sondern die Frage der Identität. Wer bzw. was bin ich? Warum kann ich mich nicht problemlos als Mann identifizieren, sondern habe Zweifel an den somatischen Fakten? Auch viele andere Transgender, die ich kenne, beschreiben ihre Thematik über den Begriff der Identität und nicht über den Begriff der Sexualität.
Tun sie das nur, weil sie sich selbst, mich und den Rest der Welt bewusst oder unbewusst belügen? Oder ist vielleicht tatsächlich die Identität der bessere und richtige Begriff?
Kann die in der wissenschaftlichen Diskussion feststellbare Fixierung auf das Thema Sexualität eventuell darauf beruhen, dass dieser Bereich der Psyche dank Freud und seinen Epigonen extrem gut erforscht ist, während in der Frage der Identität, was uns also zu dem macht was wir sind oder zu sein glauben, die Wissenschaftler aus Psychologie, Neurophysiologie und anderen Gebieten noch im Dunkel tappen? Über Sexualität lässt sich gut reden, über Identität und das was sie formt, gibt es nur Vermutungen.
Ich sehe es so: eine abweichende Geschlechtsidentität äußert sich durch Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts. Teilweise auch nur den Wunsch dazu und ggf. durch Übernahme der anderen Geschlechtsrolle und Anpassung des Körpers. Die Ausprägung lässt sich nach Intensität (wie viel) und Zeit (dauernd, manchmal, nie) charakterisieren. Und dann kommt bei manchen und manchmal noch die Erregung hinzu. Doch diese ist ausschließlich ein weiteres Symptom, das mit einer gewissen Korrelation zusammen mit bestimmten Ausprägungsformen auftritt. Aber sie ist eben nicht die Ursache! Die liegt an anderer, noch verborgener Stelle.
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Helen Boyd, My Husband Betty, p. 145:
„The classifications of the TG Community are like the worst language ever invented: there are more exeptions to ist grammar than applicable rules. These classifications only cloud the issues and delude people into thinking that there are strict definitions that hold up under every circumstances. They aren’t.“
© Jula 2006
(i) Siehe den Beschluss des BVerfG vom 6. Dezember 2005 – 1 BvL 3/03 -. In der offiziellen Pressemitteilung dazu heißt es: Wissenschaftliche Studien belegen, dass Transsexuelle auch homosexuell veranlagt sein können. Einem homosexuellen Transsexuellen ohne Geschlechtsumwandlung steht, da sich durch die bloße Vornamensänderung sein Personenstand nicht ändert, zur rechtlichen Absicherung seiner Beziehung keine andere Möglichkeit als die Ehe offen. Dadurch verliert er jedoch gem. § 7 Absatz 1 Nr. 3 TSG seinen geänderten Vornamen, da der Gesetzgeber davon ausging, der Transsexuelle würde sich in einem solchen Fall wieder seinem ursprünglichem Geschlecht zugehörig fühlen.“