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Gamechanger Selbstbestimmungsgesetz

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Selbstbestimmungsgesetz

Mit dem SBGG hat sich etwas Wesentliches verändert. Ja, vor allem für diejenigen sich sich als trans* definieren. Doch die tatsächlichen Auswirkungen werden weit über diese Personengruppe hinaus bemerkbar machen.

So war es früher 

Lange Zeit war der Umgang mit den diversen Formen von Geschlecht und Identität, die nicht dem normsetzenden, schlichten Modell entsprachen, von einer Regel geprägt: was abweicht, wird so gut es geht ins Raster gepresst.

Es heißt Geschlechtsanpassung. Aber an was eigentlich? Naiverweise dachte ich, es ginge um die Anpassung des Körpers an das Empfinden der entsprechenden Person. Doch vielleicht ist das gar nicht alles, vielleicht nicht mal der wichtigste Punkt. Es geht nämlich auch um die Anpassung einer Abweichung an die Normen und Erwartungen der Gesellschaft. Vielleicht geht es sogar vor allem anderen darum.

In „Wen schützt das TSG” habe ich bereits darüber geschrieben, dass der Sinn des TSG vor allem war, die Gesellschaft vor der Erkenntnis zu schützen, dass es das Phänomen “trans” überhaupt gibt. Durchbrechung, die es nicht geben durfte, sollten mit seiner Hilfe beseitigt oder zumindest so gut es geht unsichtbar gemacht werden.

“Als die medizinische Transition als Behandlungsverfahren entwickelt wurde, ging es nicht primär darum, trans Ratsuchenden zu helfen. Das Ziel war die Geschlechtervielfalt in der Gesellschaft zu regeln und zu kontrollieren und dabei die binäre Geschlechterordnung zu bewahren.”

Shon Faye, Die Transgender Frage

Das ist übrigens bei der Behandlung von inter Personen auch ganz genauso. Es geht um den Schutz der gesellschaftlichen Ordnung vor einer Bedrohung des Modells.

Durch die frühen trans Personen wurde das System von zwei eindeutig differenzierten Geschlechtern nicht in Frage gestellt, sondern sogar noch bestärkt. Sie passten sich, wie es von Ihnen gefordert wurde, so gut es nur ging an. Weder die Gesellschaft noch die Betroffenen selbst kamen auf den Gedanken, dass das Konstrukt selbst das Problem ist.

Ich weiß, dass ich früher eine riesige Angst davor hatte, durch eine Transition „dazwischen“ hängen zu bleiben. In einem Niemandsland. Weder Mann noch Frau, eine Unperson. Denn das noch gültige Modell von Gender lässt kein “dazwischen” zu. Es gibt kein Dazwischen, kein “sowohl als auch” und kein “weder noch”.

Die Last der Diversität wurde auf die betroffenen Individuen verlagert. Und zwar komplett. Sie hatten sich zu normalisieren. Aus diesem Grund war Passing für uns Betroffene so extrem wichtig. Es ermöglichte uns, halbwegs frei von Diskriminierung und Mobbing als die zu leben die wir nur mal sind. Wir glaubten selbst daran, falsch zu sein, solange man uns unser biologisches Geschlecht ansehen kann. 

Zudem war die Gesellschaft davon entlastet, sich selbst oder das Modell in Frage zu stellen. Das Modell blieb unangetastet. Vor allem erschien es korrekter, als es war. Denn jede Abweichung wurde schnellst- und bestmöglich zum Verschwinden gebracht. 

Die Vielfalt der biologischen Realität wird von unserem Modell immer noch in zwei sauber getrennte Gebiete geteilt, zwischen denen es keine Region gibt. Die Region zwischen den beiden Gendern. Oder gibt es sie doch? Inzwischen hat sich etwas geändert. Es gibt männlich weiblich und divers. Es gibt plötzlich Menschen, die weder Mann noch Frau sind oder auch zugleich beides. Quatsch! Sie sind nicht plötzlich da! Es gab sie schon immer. Neu ist lediglich, dass es sie nun geben darf. Nicht die Menschen haben sich geändert, sondern mit dem Modell, welches sie kategorisiert, ist etwas passiert.

Das Modell ist grundlegend

Dumm nur, dass dieses Modell eines der grundlegendsten für unser soziales Zusammenleben ist. Andere Kategorien wie die Unterscheidung von Organismen und Materie, Welle und Teilchen, Tier und Pflanze mögen vielleicht relevant sein, aber letztlich prägen sie das tägliche Leben nicht so wie die Unterscheidung zwischen Mann und Frau. Weite Teile unserer gesellschaftlichen Ordnung sind danach organisiert. Allem voran unsere Sprache, die uns zwingt, jeder Person ein Gender zuzuweisen.

Tatsächlich ist die Frage meines Gender praktisch überall in der Gesellschaft relevant. Sie bestimmt, wie ich angesprochen werde, wie von mir gesprochen wird, welche Erwartungen man an mich hat, welche Kleidung ich trage und so vieles mehr. Und das ist ganz unabhängig von meinen Chromosomen und meinen Sexualorganen.

Was wirklich das Problem ist

Wer sich selbst in dem binären Modell sehr gut wiederfindet und eventuell sogar noch eindeutig heterosexuell empfindet, hat in dem traditionalen Raster keine Reibungspunkte. Er oder sie genießt alle Vorteile eines schlichten Modells und kann Nachteile und Restriktionen weder empfinden noch erkennen. Zumindest dann nicht, wenn sie keine Person kennen, die dem Modell nicht entspricht und durch es leidet.

Sie sehen primär, dass ein für sie funktionales Modell beschädigt wird. Erwachsene und Kinder könnten verunsichert werden, Sprache wird komplexer u.a.m.. Und das, ohne dass Sie irgendein Problem erkennen können. Es gibt aber ein Problem. Bloß ist es außerhalb ihrer Wahrnehmung. Viele Leute erleben die Veränderungen negativ, weil sie kein Gefühl dafür haben, warum das sein muss und warum es gut ist. Das wiederum ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die immer gegen eine Verbesserung der Lage von Minderheiten und Unterdrückten sind: die Faschist*innen, die Religiösen und so weiter.

Und so finden sich Religiöse, Rechte und TERFs plötzlich in einem Lager wieder und bekämpfen das Gendern, Selbstbestimmung und überhaupt alles was nicht konform ist. Was sie gesunden Menschen verstanden nennen, nenne ich naive Vereinfachung aus Bequemlichkeit oder einfach nur Dummheit. 

Es handelt sich hier um den gleichen Effekt, der auch beim Klimawandel eine Rolle spielt. Menschen weigern sich, Realitäten anzuerkennen, wenn das dazu führt, dass sie ihr Verhalten ändern müssen. Es ist immer schwierig, die Botschaft zu haben, dass es nun einmal nicht so einfach ist, wie es scheint. Und es ist doppelt schwer, wenn die Folge davon ist, dass Menschen umlernen müssen. Also liegt es nahe, die Veränderung und diejenigen, die sie wollen, abzulehnen.

Dass die Debatte schräg ist, wird für mich dadurch deutlich, dass nicht von den Menschen und deren Diversität aus argumentiert wird, sondern von den Institutionen aus, die auf dem Modell beruhen. “Schutzräume”, geschlechtergetrennte Toiletten, Sprache, Sport … Es geht immer um den Schutz von vertrauten Institutionen. Die sollen sich nicht ändern, damit man selbst seine Selbstverständlichkeiten nicht in Zweifel ziehen muss, nichts Neues lernen muss.

Es geht nicht um uns! Die Queerness ist nicht das Problem. Da sind keine verbindlichen moralischen oder religiösen Gesetze, gegen die wir verstoßen. Dafür ist unsere Gesellschaft inzwischen zum Glück zu säkular und sachlich. Der heftige Widerstand beruht allein darauf, dass Menschen gezwungen werden, ihr Denken zu ändern, obwohl sie selbst gar nicht betroffen sind und betroffen sein wollen. Und noch schlimmer: Sie müssen ihr Verhalten ändern. Sie dürfen nicht mehr anderen Menschen aufgrund ihrer Wahrnehmung ein Gender zuweisen.

Es ist ein drohender Verlust von Gewissheit und Selbstverständlichkeit, der Ängste und in deren Folge Verärgerung hervorruft. Und mit dem Verlust von Sicherheit geht auch ein Verlust von Bequemlichkeit einher. Vielleicht ist das sogar noch das größere Problem. Kaum etwas nervt uns mehr, als der Zwang Gewohnheiten zu ändern. Vor allem wenn aus “Ist so wie du denkst” das schwierigere “da musst du aufpassen” wird. Und das in einem Bereich, der immer frei von Zweifeln war. Okay, bei der Quantentheorie haben wir uns damit abgefunden, dass sie kontra-intuitiv sein kann. Aber Quantenphänomene prägen auch nicht unmittelbar unser tägliches Verhalten. Das Modell von Geschlecht und Gender aber schon! Wenn da etwas anders und für mich sogar scheinbar unnötig komplex wird, dann liegt es nahe, das möglichst zu verhindern.

Es geht um die Verteidigung eines einfachen Modells: Penis oder Vulva – fertig! Ich glaube, die Menschen leugnen nicht mal, dass es in Wahrheit komplexer ist, aber sie wollen nicht, dass das ihr Leben beeinflussen soll.

Gamechanger Diversität

Das ist nun anders geworden. Ein Konstrukt, das die Gestaltung unserer Gesellschaft prägt wie kein anderes, verliert seine Einfachheit und Selbstverständlichkeit.

Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz muss das bisherige Modell von Gender nicht mehr akzeptiert werden!

Die neue Diskussion stellt nicht mehr die Menschen in Frage, sondern das Modell. Was Folgen für alle hat. Es gibt nun eine Grenzregion, wo früher eine Linie war. Und dadurch entsteht ein Gebiet der Unsicherheit und Uneindeutigkeit. Die ist aber in den Institutionen, die auf den Prämissen des Modells beruhen, nicht vorgesehen.  

Mit der Anerkennung anderer rechtlicher Geschlechtsoptionen als ausschließlich männlich und weiblich und der unübersehbaren Präsenz von diversen Personen und vor allem deren Weigerung, das Problem allein bei sich zu sehen, hat sich etwas verändert.

Es ist eben nicht so, dass plötzlich ganz viele Menschen, insbesondere Kinder entdecken, dass sie trans sind, weil sie aus Gründen des “In-Seins” bzw. weil es Mode ist, so sein wollen oder es interessant finden. Sondern es ist vielmehr so, dass mit dem Rückgang der Repressionen sich viel mehr Personen trauen, etwas zu probieren oder sich zu öffnen und zu sich selbst zu stehen.

Es gab uns schon immer! Wir haben bloß aufgehört und selbst so schnell und so gründlich wie möglich zum Verschwinden zu bringen. Wir tragen nicht mehr klaglos die Lasten eines falschen Modells, sondern fordern Akzeptanz.

Die gleiche Erosion betrifft auch das Denken und Reden über geschlechtliche Präferenz. Die vom binären Modell geprägten Bezeichnungen werden durch Transpersonen, insbesondere wenn sie auch noch genderfluid sind, in Frage gestellt. Auch diese Schubladen scheitern an der Vielfalt des Lebens.

Anerkennen der Realität

Aus einer rechtsstaatlichen und auch aus einer ethischen Sicht gibt es keine Alternative. Wenn nicht die Menschen falsch sind, sondern das Modell, dann muss sich das Modell und der darauf beruhende Umgang mit den Menschen ändern. Und das heißt logischerweise: es ändert sich für alle etwas. Alle müssen lernen, dass biologisches Geschlecht komplex ist. Alle müssen lernen, dass Gender etwas anderes als biologisches Geschlecht ist und seine Darstellung auf Ursachen beruhen kann, die man einer Person nicht ansieht.

Mit der rechtlichen Anerkennung der biologischen Vielfalt ist “die Paste aus der Tube” und wir werden sie auch mit sehr viel Gewalt nicht mehr wieder hineinkriegen. 

Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll

Georg Christoph Lichtenberg

Das Selbstbestimmungsgesetz ist nun Realität. Die biologische Vielfalt, die es schon immer gab, darf nun auch sichtbar sein und sie wird sichtbar werden und damit unsere gesellschaftliche Realität verändern. Es wird mehr Menschen geben, denen man ihren rechtlichen Personenstand nicht ansehen kann. Es wird mehr Menschen geben, die ganz offiziell weder Mann noch Frau sind.

Ich freue mich auf diese Veränderungen. Wir können die Vielfalt, die plötzlich sichtbar wird, als Bereicherung betrachten. Wir werden neue Worte finden und lernen, mit der Vielfalt umzugehen.

Querbezüge

© Jula Böge 2024

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