Besser spät als nie!
Viele Transgender brauchen lange, bis sie selbst ihre Transidentität als Tatsache akzeptieren und sich trauen, ihr Leben so zu gestalten, wie es für sie gut ist. Manche schaffen es nie.
Angst vor der Gesellschaft und Verantwortungsgefühl für die Familie sind die beiden wichtigsten Gründe, sich mit seiner Besonderheit zu verleugnen und zu verstecken.
Doch wenn sie ihre Transidentität für immer vor aller Welt verstecken, werden sie das vermutlich bereuen. Im schlimmsten Fall, wenn es zu spät ist. Bronnie Ware war lange Pflegerin auf einer Palliativstation eines Krankenhauses in Australien. Dort betreute sie todkranke Menschen. Was diese Menschen ihr am Ende des Lebens erzählten, fasste sie in einem Buch zusammen: The Top Five Regrets of the Dying.
bronnieware.com.
Was bedauern Menschen angesichts des baldigen Todes?
Die Nummer 1 der Liste der Dinge, die Sterbende bedauern, lautet:
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben!„
In der englischen Originalversion noch deutlicher:
“1. I wish I’d had the courage to live a life true to myself, not the life others expected of me.
This was the most common regret of all. When people realise that their life is almost over and look back clearly on it, it is easy to see how many dreams have gone unfulfilled. Most people had not honoured even a half of their dreams and had to die knowing that it was due to choices they had made, or not made.„
Viele Menschen verbringen ihr Leben damit, das zu tun oder noch viel mehr so zu sein, wie die anderen Menschen es von ihnen wünschen. Sie schaffen es nicht, die zu sein oder zu werden, die sie eigentlich sein sollten oder könnten. Das gilt, wie ich von mir selbst, aber auch von anderen Transgendern weiß, für uns in besonderem Maße.
Doch auch die anderen vier Punkte der Liste sind geeignet, mich nachdenklich zu machen:
2. „Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet“
3. „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken“
4. „Ich wünschte mir, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten“
5. „Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein“
Selbstverwirklichung, Glück, Beziehungen: das sind drei Dinge, deren Gestaltung wir selbst in der Hand haben.
Weil ich selbst viel zu lange gegen mich selbst gekämpft habe, statt dafür, ich selbst sein zu können, habe ich viel versäumt. Ich bereue nicht, dass ich erst relativ spät den Mut gefunden habe, mich so anzunehmen, wie ich bin. Es hat halt die Zeit gebraucht. Wichtig ist für mich nur, dass ich irgendwann den Schritt ins Leben getan habe.
Am Ende des Lebens werden wir vermutlich wenig bedauern, was wir getan haben, aber vieles von dem, was wir nicht getan haben.
Querverweise
- Wie es ist, wenn man sich versteckt: Im Versteck
- Eine etwas melancholische Kurzgeschichte: Happy End
- Meine Freundin Moni hat es schon lange gewusst: Monis Appell
© Jula Böge 2016