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Was ist normal?

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Gerade Menschen wie ich, die sich außerhalb gängiger Kategorien wiederfinden, haben großes Interesse an Normalität. Wir ringen darum, normal zu sein und scheitern oft dabei.

Der Wunsch, eine “ganz normale Frau” oder ein “ganz normaler Mann” sein zu können, ist der wohl am häufigsten von Transpersonen geäußerte.

Die Begriffe

Normal sein, bedeutet einer Norm zu entsprechen. Doch was ist eigentlich ein Norm?

Normen regeln unser Leben. Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Sorten von Normen. Den beiden Arten von Normen entsprechend gibt es die Begriffe Normativität und Normalität.

Eine Norm ist eine Sollensregel, die ein bestimmtes Tun oder Unterlassen vorschreibt.

Hier befinden wir uns auf der Ebene der Staatlichkeit. Normen in diesem Sinne gibt es, seit es Staaten und Gesetze gibt. Hier spricht man von Normativität.

Normativität ist unabhängig von Verdatung, benötigt also keinen Abgleich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es ist also tendenziell egal ob und wie viele Bürger*innen des Staates sich an sie halten. Verboten bleibt verboten. Hält man sich nicht an die Normen, drohen Sanktionen.

Eine Norm ist ein Maßstab, der Erwartungen konkretisiert.

Diese Normen kommen aus der Sphäre der Gesellschaft. Sie beschreiben, welche Erwartungen die Gesellschaft an Menschen oder Dinge hat, die bestimmten Kategorien zugeordnet werden.

Normalität ist beschreibend. Normalität ist ein statistisches Maß, das sich beispielsweise auf durchschnittliche Eigenschaften der Mehrzahl einer Bevölkerung bezieht. Dabei ist grundsätzlich einkalkuliert, dass nicht alle dieser Erwartung komplett entsprechen. Das kann man sich z.B. am Normalgewicht klarmachen. Bei der zulässigen Personenzahl für Aufzüge wird davon ausgegangen, dass jede Person 75 kg wiegt. Wenn nun 10 Personen in einem Aufzug stehen, wird das Gesamtgewicht oft nahe an 750 kg liegen, aber vermutlich keine wiegt ziemlich genau 75 kg.

Normalität ist eine Orientierungsnorm. Erfüllt man sie nicht, drohen Risiken, aber verboten ist es nicht, der Norm nicht zu entsprechen. Sie basiert auf Verdatung. Wenn es keine mehrheitliche Evidenz gibt, auf die man sich berufen kann, dann gibt es auch keine entsprechende Normalität.

Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr.

Vincent van Gogh

Das Verhältnis der beiden zueinander

Sowohl die Normativität als auch die Normalität sind flexibel. Jedenfalls hier und jetzt.  Beide sind relative Maße, abhängig von Kultur und Zeit. Daraus folgt: Was normal ist, wandelt sich.

Es ist eine moderne Vorstellung, dass Normalität und Normativität disponibel und veränderbar sind. Früher war das mal anders und in vielen Ländern auf der Welt ist es auch jetzt noch anders.

In der Vormoderne, speziell unter den Bedingungen von religiös fundierten Normen, waren Normen absolut und unveränderlich. Wenn etwas eine göttliche Norm ist, dann kann der Mensch sie nicht abändern, sondern er muss sich daran anpassen. Wenn Gott sagt, dass ihm Homosexualität „ein Gräuel“ ist (3. Buch Mose 18,22, Römer 1,26-27) oder Männer nicht Frauenkleidung tragen dürfen (5. Mose 22,5), dann ist das in vormodernen Gesellschaften nicht diskutabel, sondern man muss abweichende Individuen halt steinigen oder sonstwie aus der Gesellschaft beseitigen (3. Mose 20,13).

Unsere Gesellschaft sieht staatliche und gesellschaftliche Normen weit überwiegend anders. Nämlich als von Menschen gemachte Regeln, die folglich auch von Menschen geändert werden können. Selbst die allermeisten religiösen Menschen akzeptieren die Grundrechte unserer Verfassung und nehmen es hin, dass z.B. Männer und Frauen in Deutschland die gleichen Rechte haben, auch wenn in der Bibel etwas anderes steht.

Weil beide flexibel sind, kann in modernen westlichen Kulturen etwas passieren, was in traditionalen Gesellschaften nicht vorkommt: Normativität und Normalität können sich unabhängig voneinander entwickeln. Etwas kann auf gesellschaftlicher Ebene normal sein, aber vom  Staat normativ verboten. Oder umgekehrt.

Eine solche Situation haben wir derzeit im Bereich von Gender. Sie ist die Ursache, warum Normalität für Transpersonen so wichtig ist … und so schwierig.

Was bedeutet das für mich als Transgender?

Auf Basis der aktuellen Rechtslage in Deutschland ist was bzw. wie ich bin normal. Das bedeutet, es gibt nicht nur keine Norm, die mir verbietet so zu sein, wie ich bin, sondern der Staat schützt mich sogar in meinem Sosein.

Auf der Ebene der Normativität, also der des staatlichen Rechts, sind wir in Deutschland der Gesellschaft schon seit längerem ein Stück voraus. Selbst das mittlerweile als rückständig und den Menschenrechten nicht genügend erkannte TSG akzeptiert (siehe die früher sog. „kleine Lösung“ (s. § 1 TSG)), dass Gender etwas vom Körper und den Genitalien abweichendes sein kann.

Noch vor gar nicht so langer Zeit war Sexualität zwangsläufig identisch mit Heterosexuaität und Homosexualität war nicht nur eine krankhafte Abweichung von der einzig akzeptierten gesellschaftlichen Normalität, sondern sie war auch durch staatliche Normativität mit Strafe bedroht. Das scheint uns heute länger her zu sein, als das tatsächlich der Fall ist.

Randbemerkung: Üblicherweise folgt das Recht der Gesellschaft und nicht umgekehrt. Also das Recht vollzieht nur gesellschaftlichen Wandel nach. So war das z.B. bei Homosexualität. Bei Transgendern und dem sie betreffenden Recht ist es komischerweise anders. Da ist das Recht den Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft voraus!

Ganz anders sieht es nämlich aus, wenn ich nach Normalität frage. In der aktuellen Gesellschaft bin ich als Transperson „nicht normal“. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist davon überzeugt, dass Frauen und Männer als solche geboren werden und an ihren Genitalien zu erkennen sind. Ein vom körperlichen Geschlecht abweichendes Gender akzeptieren sie zwar im Einzelfall, aber normal finden sie das nicht. Doch das kann sich ändern, wenn sich die gesellschaftlichen Vorstellungen ändern.

Die immer noch herrschenden gesellschaftlichen Normen für Männer und Frauen sind so naturalistisch am Geschlechtskörper verhaftet, dass Transpersonen tun können, was sie wollen (und sagen sowieso), sie werden die reklamierte Normalität nur selten erreichen. Sie werden ohne Änderung der Norm dieser niemals so entsprechen können, wie sie das für sich fordern.

Anpassung ist nicht die Lösung

Dementsprechend liegt der Schlüssel für die Lösung des Problems auch nicht in einer möglichst optimalen Anpassung des Individuums an die Norm. Viele Transpersonen gehen diesen Weg und bemühen sich um eine möglichst perfekte Unauffälligkeit in der Gesellschaft.

Doch das ist leider bloß eine Scheinlösung. Im günstigen Fall schaffen Transpersonen lediglich, dass nicht mehr auffällt, dass die jeweilige Person der Norm nicht wirklich entspricht. Es ist keine echte Normalität, sondern bestenfalls eine gelungene Selbst- und Fremdtäuschung über die Einhaltung der Norm. Dass sie damit die Norm, unter der sie leiden, auch noch bestätigen und verfestigen helfen, kommt als Nebeneffekt dazu.

Eine echte Lösung kann nur in einer Veränderung der Norm liegen.

Glücklicherweise leben wir in einer Zeit und in einer Gesellschaft, in der diese Option überhaupt zur Verfügung steht. In archaischeren Gesellschaften sind Normen starr und nicht diskutabel.

Es ist also denkbar, dass unsere gesellschaftliche Norm den Wandel vollzieht, den die staatlichen Normen schon ein ganzes Stück weit gegangen sind. Es ist möglich, dass auch die Gesellschaft Gender als etwas von den angeborenen Genitalien zu unterscheidendes denkt.

Dass die Gesellschaft Gender als ein Bündel von Erwartungen versteht, von dem man weiß, dass eine bestimmte Menge erfüllt sein muss, damit Gender zugewiesen wird. Jedoch hat keine dieser Erwartungen mehr den Anspruch, dass sie zwangsläufig erfüllt sein muss.
Näheres zu Gender: Was ist Gender?

Doch gesellschaftlich normal ist das noch nicht. Und daran müssen wir arbeiten. Der Begriff des Gender braucht den gleichen Erosionsprozess, denn beispielsweise der Begriff der Sexualität schon durchlaufen hat. Homosexualität ist in unserer Gesellschaft zwar deutlich seltener als Heterosexualität, doch ändert das nichts daran, dass es als weitgehend normal empfunden wird, dass es Homosexualität gibt.

Wie geht es weiter?

Der Begriff Normalität ist ein terminologischer Pudding, eine breiförmige Masse, die unter der Hand erstarrt, aber schwabbelig bleibt und zerfällt, sobald man sich ihr mit einem harten Instrument nähert. Ein definierender Zugriff hat keine Chancen. Normalität wird einem eingebrockt, man kann sie nur auslöffeln.

Hans-Magnus  Enzensberger

Wir haben es momentan in Bezug auf Gender mit der ungewöhnlichen Diskrepanz zu tun, dass im rechtlichen Bereich des Staates der Begriff Gender nicht nur akzeptiert ist, sondern im Prinzip definitorisch sehr modern und flexibel angewandt wird.

Demgegenüber ist der Begriff als ergänzender Begriff zu Geschlecht weder in der Breite der Bevölkerung angekommen noch gar verstanden. Von der Akzeptanz seiner definitorischen Veränderung und Flexibilisierung gar nicht zu reden. Normalität braucht gesellschaftliche Akzeptanz. Das ist ein Prozess, der sich manchmal über Jahrzehnte hinziehen kann.

Dauerhaft lässt sich eine solche Diskrepanz bei einem so wichtigen Merkmal wie Gender nicht durchhalten. Irgendwie müssen Staat und Gesellschaft wieder zusammenfinden.

Diese Diskrepanz kann sich in zwei verschiedene Richtungen auflösen.

Möglichkeit 1: der Staat gibt nach und passt sein Recht an. Das Erstarken von (rechts-)populistischen Positionen deutet darauf hin, dass viele Menschen das Gefühl haben, dass die aktuelle Rechtssituation sich zu stark von ihrem Empfinden, was normal sein sollte, entfernt hat.

Das würde bedeuten, dass die rechtlichen Regelungen an das populistische Empfinden anpassen müssten. Damit verbunden wäre ein deutlich verändertes Verständnis zu den Menschenrechten und speziell den Grundrechten des Grundgesetzes verbunden. Ein Rollback gigantischen Ausmaßes.

Oder Möglichkeit 2: die gesellschaftliche Vorstellung von Normalität bei Gender erodiert doch unter dem Druck des Faktischen. Dazu braucht es Erkennbarkeit. Nur, was man wahrnimmt, hat auch die Chance normal zu werden.

Das führt zu einer etwas seltsam anmutenden Schlussfolgerung: Wenn wir Transpersonen irgendwann wirklich normale Männer oder Frauen sein wollen, dann müssen wir zunächst dazu stehen, dass es uns gibt und wir derzeit eben nicht normal sind.

Normal können wir nicht dadurch werden, dass wir so tun, als würden wir einer falschen Normalität genügen, sondern nur dadurch, dass wir dazu beitragen, diese Normalität zu verändern.

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© Jula Böge 2017

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