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Wir sind Aschenputtel!

  • von
Aschenputtel

Eigentlich mag ich Märchen nicht besonders. Aber eines hatte es mir als Kind angetan und es war von jeher mein Lieblingsmärchen: Aschenputtel!

Zur Erinnerung: Aschenputtel in der Version der Brüder Grimm

Dieses Märchen war mir das liebste und natürlich identifizierte ich mich mit Aschenputtel.

Heute, mit einer Menge zeitlichem Abstand mag ich das Märchen immer noch und wenn ich darüber nachdenke, dann hat das Gründe. Aschenputtel ist für mich das Identifikationsmärchen schlechthin für genetisch männliche Transgender, die sich als Frau sehen. Und dafür gibt es viele Gründe.

  • Hässliche Kleider:
    Aschenputtel musste im Märchen einen grauen Kittel und klobige Holzschuhe tragen, während die Schwestern in schönen Kleidern einhergingen.
    Schöne Mädchen- bzw. Frauenkleider waren für mich lange Zeit in meinem Leben ein unerreichbarer Traum. Ich musste mich mit grauen Männersachen und klobigen Männerschuhen arrangieren.
  • Verspottet von den Schwestern und der Stiefmutter:
    Viele Crossdresser haben davor eine Höllenangst, dass sie verspottet und belächelt werden, wenn sie zu ihren Wünschen stehen. Die Scham, „schmutzig“ zu sein und nicht für schöne Kleider vorgesehen zu sein ist eine Begleiterin, die viele Trannies haben.
  • Keine Freunde:
    Aschenputtel ist einsam, obwohl sie mit verschiedenen Menschen im Haus lebt. Vater, Steifmutter und Stiefschwestern sind zwar da, doch sie sind keine Ansprechpartner für Aschenputtel. Die Familie gestand Aschenputtel nicht zu, ein Mädchen zu sein, sie war bloß eine Magd.
    „Nein“, sagte der Mann, „nur von meiner verstorbenen Frau ist noch ein kleines verbuttetes Aschenputtel da; das kann unmöglich die Braut sein.“
    Ebenso wie uns in vielen Familien und Partnerschaften nicht zugestanden wird, zumindest ein wenig Frau zu sein, sondern wir auf die Rolle des Mannes fixiert sind.
  • Linsen sortieren:
    Es geht mir und vielen anderen Crossdressern nicht anders als Aschenputtel. Auf den Ball dürfen viele Crossdresser (wenn überhaupt!) erst dann, wenn die Männerarbeit getan ist und die Männerpflichten erledigt sind und dann noch Zeit übrig bleibt.
  • Darf nicht mit auf den Ball:
    Letztendlich aber, selbst wenn ich alle meine Pflichten erledigt habe, darf ich doch nicht mit. All unsere Anstrengungen, den an uns gerichteten Erwartungen zu genügen, helfen uns nicht. Wir erwerben durch Fleiß und Gehorsam nicht das Recht unseren inneren Bedürfnissen entsprechend zu leben. Ebenso wenig wie Aschenputtel ihre fixe Linsensortierarbeit hilft.
    Denn: Aber sie (Edit: die Stiefmutter) sprach: „Es hilft dir alles nichts, du kommst nicht mit, denn du hast keine Kleider und kannst nicht tanzen; wir müssten uns deiner schämen.“
    So sieht es leider im Leben vieler Crossdresser aus! Falls wir überhaupt in unserer Familie den Mut aufbringen, zu unseren Wünschen zu stehen und Frau (nein, es muss nicht gleich Prinzessin sein) sein möchten, dann werden wir häufig genau das erleben. Unseren Wünschen wird entgegengehalten, dass wir hässlich sind und unsere Wünsche irreal. Du darfst nicht raus! Was sollen denn die Nachbarn sagen? Wir müssten uns für dich schämen.
  • Schöne Kleider durch Zauberei:
    Viele Crossdresser wünschen sich, sie hätten auch einen solchen Haselnussbaum, denn wie sonst sollten sie an die schönen Frauenkleider und Schuhe kommen, die sie sich wünschen.
    Für viele Crossdresser sind die Chancen, schöne Kleider zu kriegen kaum besser als für Aschenputtel. Das geht manchmal schon beim Geld los, das man dafür haben muss und an der Familienkasse vorbeilotsen muss. Aber wann kauft man Kleider und wo? Wie Aschenputtel können sie nicht einfach in einen Laden gehen. Gut. Zugegeben, sie könnten es und ich tue es inzwischen auch. Doch solange ich noch in der Asche hockte, waren schöne Kleider unendlich weit weg.
  • Schön auf Zeit:
    Aschenputtels geliehene Schönheit war nur auf Zeit bemessen. So lebe auch ich als Frau und viele andere ebenfalls. Wenn die Alltagspflichten erledigt sind (s.o.) dann sind wir Frauen auf bemessene Zeit. Wir müssen am nächsten Tag wieder arbeiten, wir haben Pflichten. Viel zu schnell ist die Zeit als Frau vorbei und die Familie kommt wieder heim und möchte das Aschenputtel, also den Mann wieder so vorfinden, wie er aussehen soll.
  • Verheimlichen der wahren Identität:
    So wie Aschenputtel vor dem Prinzen flüchtet (warum eigentlich? In der englischen Cinderella-Version gibt es eine Zeitbegrenzung, die Cinderella einhalten muss. Bei den Brüdern Grimm nicht), so flüchten auch wir Transgender häufig davor, erkannt zu werden. Niemand soll wissen, wer die Prinzessin wirklich ist. Und so rennen und verstecken wir uns wie Aschenputtel, damit niemand in ihr die Ballprinzessin erkennt.
  • Spuren in Form von Kleidung, die anderen nicht passt:
    Aschenputtels Schuhe passen den Schwestern nicht. Den meisten Frauen würden meine Schuhe auch nicht passen. Sie wären ihnen einfach zu groß.
    Unsere Kleidung verrät uns, das ist die eigentliche Parallele, um die es mir hier geht. Wir passen auf und verstecken uns, doch irgendjemand findet unsere Kleidung und wenn wir Glück haben (so war es bei mir) dann führt das zur Erlösung und zu einem glücklicheren Leben für Aschenputtel.
  • Angehörige glauben nicht, dass es Aschenputtel sein kann:
    Insbesondere der Vater in dem Märchen hat eine starke Ahnung, wer die Schöne auf dem Ball war. Doch selbst er will es nicht wirklich glauben.
    „Nein“, sagte der Mann, „nur von meiner verstorbenen Frau ist noch ein kleines verbuttetes Aschenputtel da; das kann unmöglich die Braut sein.“
    Aber doch, gerade wir, in denen die nächsten Angehörigen, Freunde und Nachbarn nicht im Traum eine Frau vermuten würden, sind es.
  • Der Prinz rettet Aschenputtel!:
    Das ist der Cinderella-Komplex.
    Wie Aschenputtel bzw. Cinderella wartet auch die heutige Frau noch auf den rettenden Prinzen.
    Colette Dowling beschreibt in ihrem gleichnamigen Buch „die heimliche Angst der Frauen vor der Unabhängigkeit“ und beklagt, dass „Tausende und Abertausende von Frauen“ „auf eine bestimmte Weise erzogen“ werden und damit nie in der Lage sind, sich der Realität zu stellen, dass sie als Erwachsene allein für sich verantwortlich sind.“
    Selbst das gilt für uns ebenfalls! Viele von uns sitzen ewig in der Asche und Träumen davon, dass endlich das Wunder geschieht, das es ihnen ermöglicht, einmal die Ballprinzessin zu sein. Auch die weite Verbreitung von Fantasien, in denen wir von wem auch immer (gegen unseren Willen!) gezwungen werden, eine weibliche Rolle zu übernehmen und weibliche Kleidung zu tragen, zeigt, wie weitgehend wir darauf warten, dass andere uns unser Lebensglück geben, anstatt es uns selbst zu nehmen. Wir können jedoch, anders als die Frauen von denen Dowling schreibt, nicht für uns in Anspruch nehmen, zur Abhängigkeit erzogen worden zu sein. Wir sind als Männer zur Unabhängigkeit erzogen worden, aber auch dazu unsere Wünsche zu unterdrücken, wenn sie nicht „männlich“ sind.

Einen wichtigen Aspekt habe ich mir für den Schluss aufgehoben:

Ja, Aschenputtel wurde durch ein Wunder erlöst. Doch die Bedingungen, die dazu führten hat es selbst geschaffen.
Weil sie ihn pflanzte und pflegte, gab es den Haselnussbaum und darauf das wundertätige Vögelchen.
Weil sie sich über die Anordnungen der Stiefmutter hinwegsetzte, kam sie überhaupt auf den Ball.

Sie ist nicht einfach in der Asche hocken geblieben und hat sich bedauert, sondern hat etwas getan, um ihr Schicksal zu ändern. Sie hat sich schöne Kleider beschafft und ist auf den Ball gegangen.

Wenn man sich all diese Aspekte vor Augen führt, dann gibt es für mich nur eine Schlussfolgerung:

Ich bin Aschenputtel!
Wir Transgender sind Aschenputtel!

Schade nur, dass viele von uns noch daheim in der Asche hocken und auf das Wunder warten.

© Jula 2008

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