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Rezension: Stefan Hirschauer: Die soziale Konstruktion der Transsexualität

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Hirschauer Buch

ISBN 3518286455, 18 €

Das Buch stammt von 1992 und ist schon damit ziemlich alt. Ich wollte es immer schon lesen, aber erst jetzt ist mir ein Exemplar in die Hände gefallen. Ich war misstrauisch, ob das Buch mir überhaupt noch etwas zu sagen hat. Es hat!

Hirschauer ist für mich nach wie vor der wichtigste Soziologe in Deutschland für Themen rund um Gender. 

Seine Aufsätze zum Thema Doing bzw. Undoing Gender1) waren für mich wichtige Quellen, die mir mehr als ein Aha-Erlebnis beschert haben.

Das Wichtigste vorweg: Das Buch ist immer noch unbedingt lesenswert.

Um was geht es?

Ausgangspunkt ist Hirschauers These, dass es sich bei der Zweigeschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft nicht um etwas naturgegebenes handelt, sondern um eine Konstruktion. Dementsprechend betrachtet er auch das Phänomen Transsexualität im Hinblick auf seine Funktionalität innerhalb dieses Modells.

Für ihn sind Transsexuelle geradezu Expert*innen für Geschlechterkonstruktion.

Entsprechend dem Ansatz des Doing Gender, nach dem Gender aus einer Kombination von Geschlechtsdarstellung  und einer korrespondierenden -zuweisung entsteht, widmet er sich ausführlich der sozialen Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit durch entsprechende Darstellung. 

Kunstvolle Natürlichkeit

Wobei die Darstellung nicht als solche erkennbar sein darf. Wenn die Darstellung als solche erkennbar wird, kommt der Verdacht der Täuschung auf. Ziel ist jedoch Selbstverständlichkeit.

Hirschauer nennt es: „Die kunstvolle Natürlichkeit von Geschlechtsdarstellungen

Ein großes Thema dabei ist das eigene Wissen. Denn es zerstört (oder erschwert zumindest) die Selbstverständlichkeit:

Neben der Frage, was Betrachter vom Hintergrund einer Darstellung wissen, ist entscheidend, ob die Darsteller bereits die nötige Selbstvergessenheit haben, um ihre eigene Darstellung nicht als solche erkennen zu müssen.

Transsexualität und Medizin

In der Folge schreibt er ausführlich darüber, wie die Behandlungsoptionen für Transsexualität das Verständnis des Phänomens aber auch das Selbstverständnis der Betroffenen verändert haben.

Die Medikalisierung des Geschlechtswechsels veränderte nicht nur die gesellschaftlichen Behandlungsformen, sondern auch die Phänomene selbst.

Hirschauer sieht  in den gesamten Verfahren und insbesondere anpassenden Operationen einen „Normalisierungstribut, den Transsexuelle entrichten.“ Das ganze Projekt dreht sich um „die medizinische Fabrikation authentischer Geschlechtszugehörigkeit„, die das Ziel der Transsexuellen ist. Die Geschlechtszugehörigkeit wird stationenweise erhärtet, bis sie zum Faktum geworden ist! Damit ist sie auch im Wortsinn etwas „Gemachtes“. Wobei im Selbstverständnis der Betroffenen das hergestellte Geschlecht schon immer natürlich da war. 

Konstruierte Athentizität

Hirschauer arbeitet hier mit dem Wort „Authentizitätskonstruktion“: Dieser Begriff bringt für mich unseren Grundwiderspruch auf den Punkt. Das authentische Geschlecht, das wir für uns reklamieren, muss erst hergestellt werden. Warum? Damit es auch für andere real wird.

Hirschauer legt für mich den Grundwiderspruch offen, mit dem wir Transgender leben:

An der Transsexualität werden die Axiome unserer kulturellen Annahmen über Geschlechtszugehörigkeit bewiesen und bestritten: dass der Körper die Geschlechtszugehörigkeit begründet und dass sie von lebenslanger Konstanz ist.

Damit sind wir die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Wir erhalten mit den Opfern, die wir an unseren Körpern erbringen, die Ordnung aufrecht, die durch unsere Existenz in Zweifel gezogen wird.

Das führt dazu „…, dass transsexuelles Sense-Making von vorneherein ein Versuch der Selbstnormalisierung ist. Wenn Geschlechtswechsler versuchen, sich in Ordnung zu bringen, dann in die Ordnung, die ihre Kultur für zwei Geschlechter vorsieht.

So viel zu den Inhalten des Buches, die immer noch aktuell sind, weil sich am gesellschaftlichen Modell von Geschlecht und Gender in den letzten Jahrzehnten nichts grundlegend geändert hat. Wir glauben mehrheitlich immer noch, dass jeder Mensch von Geburt an und äußerlich sichtbar eindeutig Mann oder Frau ist.

Dadurch bleibt auch die Frage relevant, ob es überhaupt Transsexuelle gäbe, wenn dieses Modell anders oder zumindest offener wäre.

Resümee

Ich empfehle das Buch allen, die nicht vor etwas sperriger soziologischer Sprache zurückschrecken. Und vor allem auch keine Angst haben, die eigenen Gewissheiten wissenschaftlich kalt hinterfragen zu lassen.

© Jula Böge 2020

1) insbes. „Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit“ in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1994, S. 668-692

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