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Perücke

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Ein haariges Thema

Wie viel Perücke brauche ich um Frau sein zu können?

Als transidente Person stecke ich in einer blöden Situation. Meine Identität versichert mir, dass ich (zumindest auch, wenn nicht sogar ganz) weiblich bin. Meine körperliche Erscheinung brüllt aber das Gegenteil in die Welt, denn mein Körper ist nun mal der eines Mannes.

Wenn ich meine Weiblichkeit ausdrücken will, dann muss ich mich zunächst optisch in eine Frau verwandeln. Das brauche ich für mich selbst, als Ausdruck meiner Identität, aber auch für die Umwelt, damit sie weiß, dass ich zur Gruppe der Frauen gehöre.

Für eine optimale Wirkung wäre natürlich die perfekte Maskierung wünschenswert. Das wäre dann zwar optisch die glaubwürdigste Frau – aber leider wäre es eben nur die Maske einer Frau und nicht mehr ich. Wenn es bloß auf das Frausein ankäme, dann wäre es das einfachste, sich so eine Burka zu besorgen, wie sie die afghanischen Frauen tragen, und so den Körper samt Figur und Gesicht komplett zu verhängen. Voila, eine Frau. Aber leider eben nicht die Frau, die ich sein möchte, nämlich die weibliche Version von mir selbst.

Was das betrifft, wäre es mir fast am liebsten, ich würde direkt und ohne notwendige Veränderungen als Frau erkennbar, wenn ich mich gerade so fühle. Aber das passiert nun mal nicht.

Was das konkret für mein Styling bedeutet und insbesondere die Nutzung von Perücken, das möchte ich im folgenden genauer erklären.

Der magische Moment!

Kein anderer Moment ist so entscheidend für die temporäre Verwandlung eines Mannes in eine Frau wie dieser: Das Aufsetzen der Perücke. Wenn man vorher beim Schminken im Spiegel noch dauernd den angemalten Mann gesehen hat, dann verwandelt die Perücke plötzlich die Selbstwahrnehmung. Man sieht (hoffentlich) nun endlich das, was man sein möchte, nämlich eine Frau.

Nichts anderes verändert für sich allein genommen die Optik so stark wie eine Perücke. Mit einer passenden weiblichen Frisur wird der gesamte Mensch anders wahrgenommen.

Weiblicher sowieso. Hinzu kommt jedoch als weiterer wichtiger Aspekt, dass eine andere Frisur ggf. auch mit anderer Haarfarbe das Individuum komplett verändert. Es ist unheimlich schwer, jemanden zu erkennen, der eine andere Frisur hat.

Randbemerkung: Es bleibt ungeklärt, wieso so viele Ehemänner nicht bloß ihre Frau wieder erkennen, wenn diese vom Friseur kommt, sondern nicht mal bemerken, dass die nicht mehr brünett sondern rothaarig und zusätzlich lockig geworden ist. Würden die bemerken, wenn ihre Frau nach Hause käme und eine Gasmaske aufhätte? Ich bezweifle es.

Eine Frisur verändert extrem. Als Beleg verweise ich auf die vielen Comedy-Shows im Fernsehen, in denen die Protagonisten es hauptsächlich mit Hilfe von Perücken schaffen, zu vollkommen anderen Menschen zu werden.

Nützliche Tarnung

Für diejenigen von uns, die nicht als transidente Person bei Freund und Feind bekannt sind, die also Angst davor haben müssen, den Satz „Schau doch mal! Ich dachte, das sei eine Frau, aber es ist unser Nachbar, Herr X!“ hören zu müssen, wenn sie als Frau unterwegs sind, bedeutet die verändernde Wirkung Schutz.

Die Frau ist allein durch die Haarpracht optisch deutlich entfernt vom männlichen Ausgangspunkt. Und das nicht bloß wenn sie lange, gewellte, platinblonde Haare hat, wo bei dem Mann bloß bräunliche Stoppel wuchern, sondern bei so ziemlich jeder anderen Frisur.

Kein Zweifel, die Perücke ist ein Wundermittel.

Insofern mag es verblüffen, dass ich mich vor einiger Zeit auf gutes Zureden einer Freundin (huhu Claudia!) entschlossen habe, ihrem Vorbild zu folgen und mit meinen eigenen, für eine Frau recht kurzen Haaren als Jula unter die Leute zu gehen.

Perücke ist nicht gleich Perücke.

An dieser Stelle sollte ich präzisieren, von was genau ich rede, denn die Qualitätsunterschiede sind ebenso gewaltig, wie die Preisunterschiede.

  • Für 10 bis 50 Euro bekommt man in Kaufhäusern und im Versandhandel schon Perücken, die auf Bildern gut aussehen. Es handelt sich hierbei um Faschingsartikel. Wer damit rausgeht, muss wissen, was er tut.
  • Zwischen 50 und 250 Euro bekommt man (besonders aus den USA) schon halbwegs ansehnliche Exemplare.
  • Zwischen 250 und 600 Euro muss man im deutschen Fachhandel für eine qualitativ ansprechende Perücke hinlegen.
  • Darüber hinaus, insbesondere wenn man mehr als 1000 Euro hinlegen will und kann, bekommt man individuelle Maßanfertigungen, denen man nicht ansieht, dass sie gekauft und nicht „selbst gewachsen“ sind.

Für alle Perücken unterhalb der letztgenannten Klasse gilt: man erkennt sie als Perücken! Die Frage ist bloß, ob schon aus 20 Metern oder erst wenn man sich gegenüber steht. Und folglich erregen sie Aufmerksamkeit.

Mit Perücke ist man auffälliger

Dass einige Transgender ihren Traum von der lang wallenden Haarpracht in Schwarz oder Platinblond auf diese Art und Weise verwirklichen und in der Folge, weil das eben nicht alters- und typgerecht ist, praktisch mit einem Hinweisschild „Achtung Leute, hier stimmt was nicht!“ auf dem Kopf herumlaufen, ist bloß die Spitze des Eisbergs. Auch eine unauffälligere Perücke ist eine Einladung zur näheren Inspektion.

Das Wissen, dass auch die beste meiner Perücken nicht so gut ist, dass sie bei näherer Betrachtung nicht als „Pudel“ auffällt, schlägt auf mein Selbstbewusstsein durch. Es ist so wie mit einer sichtbaren Prothese. Sie mag noch so „lebensecht“ sein, sobald sie als Prothese identifiziert wird, ist klar „Das Bein bzw. der Arm ist ab!“ Der Makel wird fokussiert. Der Gedanke, dass ein Verlust der Perücke auch den Verlust meiner Glaubwürdigkeit in der Frauenrolle zur Folge hätte, verunsichert mich stark. Insofern kann ich von der optischen Zauberwirkung nur teilweise profitieren. Denn was mir die Haare an Feminität schenken, das nehme ich mir selbst wieder durch mein unsicheres Auftreten.

Perücken sind unbequem

Auch hier sind (im folgenden spare ich mir den Hinweis, denn er gilt immer) nicht die individuell angepassten Luxusmodelle, sondern die „Serienprodukte“ von der Stange gemeint.

Es muss nicht mal ein extrem heißer Sommertag sein. Perücken werden nicht umsonst auch gerne „Mütze“ genannt. Man schwitzt darunter ziemlich.

Perücken sind tückisch

Jedenfalls für Menschen wie mich. Da ich sie nicht mit Klemmen fixiere, kann die Perücke schon mal ihre korrekte Postition verlassen. Ich erinnere mich mit Schrecken daran, dass ich einmal auf einem Bild, dass von mir gemacht worden war, mit erheblichem zeitlichem Abstand erkennen musste, dass ich einen Abend lang mit einem Seitenscheitel rumgelaufen bin, wo eigentlich ein Mittelscheitel sein sollte …

Die Angst, z.B. bei starkem Wind die Perücke vom Kopf geweht zu bekommen (ich bin schon mal wenig ladylike mit einer Hand auf dem Kopf über die Kölner Domplatte gehetzt) entspricht ungefähr der Angst, dass der Wind unschöne Haardefizite (meine „Geheimratsecken“) frei weht. Insofern unentschieden.

Das alles sind relevante Punkte. Jedoch ist der für mich entscheidende ein anderer. Dabei geht es um Authentizität.

Das wäre nicht ich! Das wären nur die Haare!

Um erklären zu können, was ich damit meine, möchte ich etwas ausholen.

Meine liebe, verstorbene Freundin Hekate hat in einer ihrer Erzählungen einen einfältigen Jungen namens Anton zur Hauptfigur gemacht. Dieser Anton hatte (neben den Verwicklungen der äußeren Handlung) das Problem, dass er nicht wusste, ob ihm wichtig war, zu erreichen, dass er ein unauffälliges „Mädel“ sein konnte. Oder dafür Beifall zu bekommen, dass er als Junge ein so schönes und glaubhaftes Mädel spielen konnte. Mädchen sein oder als Junge Mädchen spielen. Anton wusste nicht, worum es ihm eigentlich ging.

In der Folge sprachen Hekate und ich von „Antons Dilemma“, weil wir das Gefühl hatten, dass diese Frage zentral für unser Selbstverständnis als Transgender ist. Was genau wollen wir mit unseren Wechseln auf die weibliche Seite erreichen? Wir waren sicher, dass diese Frage von unterschiedlichen Trannies unterschiedlich beantwortet werden würde.

Ich habe mich für die erste Variante entschieden. Ich möchte nicht erreichen, dass ich als Mann dafür respektiert werde, dass ich so eine (sexy?) Frau sein kann, sondern ich möchte als so selbstverständlich weiblich wie nur möglich angenommen werden.

Mit anderen Worten, ich möchte eine möglichst authentische Frau sein.

Diese Entscheidung hat Auswirkungen auf die hier diskutierte Perückenthematik. Ich formuliere die Frage darauf bezogen um: Hilft mir die Perücke, ich selbst zu sein oder nutze ich sie, um jemand anderer zu werden?

Es gibt viele Frauen, die auf Perücken angewiesen sind, weil sie Haar- bzw. Kahlheitsprobleme haben. Diese nutzen Perücken, um weiter sie selbst sein zu können. Die nahe liegende, weitere Option, Perücken zu benutzen, um eine besser aussehende Version von sich selbst zu erzeugen, wird von Frauen, zumindest hier in Europa, in den USA scheint das etwas anders zu sein, nur in geringem Umfang genutzt. Eine Perücke ist hier tendenziell nicht Optimierung, sondern im kritischen Sinne Verkleidung.

Es gibt Gründe sie zu nutzen, insbesondere um den Haarverlust einer Chemotherapie zu kaschieren. Doch dann wird mit ihr nur der gewünschte Normalzustand wieder hergestellt. Für Verbesserungen gibt es Farbe, Dauerwelle und eventuell noch „Extensions“, doch nur in Ausnahmefällen „Zweithaar“.

Meiner Meinung nach ist das deshalb so, weil eine Perücke durch ihre starke verändernde Wirkung tatsächlich dazu führt, dass man eine andere Person wird.

Eine lange blonde Perücke an Stelle der üblichen brünetten Kurzhaare macht aus einer Frau einen anderen Typ, auf den auch andere Stereotype und Klischees Anwendung finden. Mit einer Perücke kann eine Frau, eine andere Frau werden.

Und ich könnte das mit Perücke auch.
Vielleicht könnte ich mit Perücke eine Frau sein, die ich gerne wäre, aber eben leider doch nicht bin. Je mehr die Perücke aus mir jemanden ganz anderen macht, um so weniger bin ich das selbst.

Das ist eventuell sehr spitzfindig, aber je weniger ich an Utensilien brauche, je natürlicher ich mich geben kann, um so näher fühle ich mich meinem Ziel, tatsächlich eine Frau zu sein und nicht ein verkleideter Mann. Eine weibliche Mähne ist für mich geliehene Weiblichkeit (bzw. gekaufte), aber eben nicht originär meine eigene, mit der ich akzeptiert werden möchte. Insofern bezahle ich den Weiblichkeitsgewinn durch eine Perücke teuer mit einem Authentizitätsverlust.

Für mich ist die Situation bloß noch ein wenig kniffliger als für eine geborene Frau. Denn während sie die Alternative hat welche Frau sie sein will, habe ich das Problem überhaupt Frau sein zu können und darüber hinaus meine männliche Identität schützen zu wollen.

Es kommt darauf an, was für mich wichtiger ist. Ist es der Schutz der eigenen Person, dann komme ich um die Perücke nicht herum. Sie stützt mein Ego, weil sie das, was ich der Welt präsentiere optisch weiter von meinem Normalzustand entfernt. Und vor allem schützt sie meine Person, weil Rückschlüsse auf meine Identität als Mann nur schwer möglich sind. Allerdings macht ich die Perücke für andere Menschen auffälliger. Sie sehen, dass ich nicht echt bin, sondern eine Maske trage.

Wenn ich ohne Perücke (also nur mit meinen weiblich frisierten Haaren) als Frau unterwegs bin, dann bin ich mehr ich selbst. Ich stehe zu dem was und wie ich bin. Das wirkt sich darauf aus, wie ich wahrgenommen werde. Und der Effekt ist: ohne Perücke wirke ich glaubhafter als Frau. Ich habe nur mit Staunen festgestellt, dass mich ohne Perücke viel weniger Leute angestarrt haben als mit!

Ähnlich ist es mit dem Makeup. Am liebsten wäre mir, ich könnte ungeschminkt, bloß mit ein wenig Lippenstift und Eyeliner rausgehen und die Leute würden erkennen: Ah ja, eine Frau. Damit die Leute kapieren, was sie sehen sollen, muss ich allerdings dicker auftragen und mehr tun: Concealer, Makeup, Rouge, Lidschatten usw. usf. Optimalerweise so, dass die Leute erst auf den zweiten Blick sehen, dass die Frau herbeigeschminkt ist. Da bleibt zwangsläufig noch eine Menge männlich-kantiges, dass nun mal zu meiner „Natürlichkeit“ gehört. Dickere und buntere Schminke würde mich zwar weiblicher machen aber ich würde mit Identität und Natürlichkeit bezahlen. Ich wäre nicht mehr ich, sondern ein von mir erzeugtes Klischee von Weiblichkeit.

Ich wähle zwischen der Möglichkeit, ich selbst in weiblicher Version zu sein oder eine möglichst schöne Frau zu erzeugen. Und ich entscheide mich für die erste Alternative, da ich nun mal nicht beides gleichzeitig haben kann. Solange ich die Chance habe (das wird sicher nicht immer so bleiben) ohne Hilfsmittel, ich selbst (als Frau) zu sein, werde ich das versuchen.

Querverweise

© Jula 2008

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