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Rezension: Christian Seidel, Die Frau in mir

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Seidel - Die Frau in mir

ISBN: 978-3-453-60299-1

Aus dem anglo-amerikanischen Bereich kannte ich schon Bücher, in denen Männer als soziales Experiment eine gewisse Zeit als Frau lebten. Bzw. sie glaubten, als Frau zu leben, schlüpften aber tatsächlich in die Rolle einer Mann-zu-Frau-Transgender. Meist ohne das für sich wirklich zu reflektieren. Nun ein „Geschlechtswechsel-Experiment“ als Sachbuch aus Deutschland? Deshalb war ich vorab misstrauisch. Nach der Lektüre bin ich positiv überrascht. 

Christian Seidel ist in seinem einjährigen Selbstversuch sehr wohl bewusst, dass er im Zweifel als genetischer Mann gelesen wird. Das und sein Umgang mit dieser Tatsache macht für mich das Buch umso sympathischer. In vielem kann ich mich sehr gut wiedererkennen. Das trifft insbesondere die Themen Angst, Scham und Peinlichkeit.

Seidel verharrt nicht beim billigen Effekt. Er macht sich tiefgründige und weiterführende Gedanken zu den Themen Geschlecht, Gender und Identität in unserer Gesellschaft. Ich glaube, das Buch ist ein guter Beitrag um die längst fällige Debatte, die für Menschen wie mich so wichtig ist, in unserer Gesellschaft anzustoßen. Auch wenn es der Mehrheit so erscheint, zerfällt die Menschheit nicht digital in Männer und Frauen. Die Natur ist komplexer und das muss gesellschaftlich anerkannt werden.

Neben den authentischen Erfahrungen als Frau hat er auch eine weitere Sorte von Erfahrungen gemacht: Er hat die soziale Rolle gewechselt und ist dadurch nicht nur partiell Frau geworden, sondern auch eine von uns. Tatsächlich hat er teils nicht die Normalität einer Frau erlebt, denn das ging wegen des Körpers nicht. Tatsächlich hat er die Realität von Transgendern erlebt. Er konnte erfahren, wie es ist, wenn man sich aus der gesellschaftlichen Normalität heraus und in die Rolle eines Individuums begibt, das es in unserem Geschlechtermodell nicht geben dürfte. Er ist in die Rolle einer Person geschlüpft, bei der körperliches Geschlecht und soziale Rolle divergieren. In die Rolle von jemandem, dessen Verhalten von der Gesellschaft eventuell als pathologisches Phänomen (findet seinen Körper falsch oder lebt damit einen Fetisch) eingeordnet wird.

Vieles, was er erlebt hat, waren deshalb nicht (nur) die originären Erfahrungen einer Frau. Es waren vor allem die Erfahrungen, die wir Transgender machen. Die Scham, die Angst, die unverhoffte Akzeptanz, die ebenso unerwartete Ablehnung, die Attraktivität, die aus unserer Exotik gespeist wird und auch das innere Gefühlschaos, wenn die scheinbare Klarheit der Kategorien Mann und Frau sich auflöst.  

Das gilt im Guten wie im Bösen. Einer “Normalfrau“ spuckt in unserer Gesellschaft niemand einfach so auf die Schuhe. Ihr werden in Clubs aber auch nicht so viele Visitenkarten zugesteckt. Sie bekommt keine Zuwendung allein für das Faktum, dass sie Frau ist. Es gibt für Transgender sowohl den Respekt und die Zuwendung als auch die Ablehnung und den Ekel in besonderer Form. Alles das hat Seidel authentisch erlebt und beschrieben.

Sehr fesselnd fand ich die Überlegungen, wie sich das Experiment auf die Beziehungen in seinem engeren Umfeld ausgewirkt hat. Die Verwerfungen in der Partnerschaft, der Verlust von männlichen Freunden, aber auch die Freundschaften als Frau mit Frauen.

Das Buch ist über weite Strecken eine Reflektion über Männlichkeit und die Beschränkungen der männlichen Rolle in unserer Gesellschaft. Einiges davon ist etwas plakativ und klischeehaft und die Männer kommen etwas zu schlecht weg, dafür werden umgekehrt die Frauen ein wenig zu sehr idealisiert.

Die Offenheit und Ernsthaftigkeit, mit der Seidel das Projekt betrieben hat, hat mich sehr beeindruckt. Zwischendrin war er sich vermutlich selbst nicht sicher, wo das enden wird, und ob es von Christiane wieder einen Weg zurück zu Christian geben wird. Verändert hat es ihn sicher.

Zu dem Projekt gibt es eine sehenswerte Filmdokumentation mit dem Titel „Christian & Christiane“ von Dariusch Rafiy, die arte TV produziert hat.

So ganz hat ihn das Thema übrigens nicht losgelassen. Er ist inzwischen neben seinen Tätigkeiten als Produzent und Autor auch als Berater zu Genderthemen tätig.

Homepage: http://www.christianseidel.de/

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© Jula Böge 2020

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