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Der weiße Flamingo

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Ich habe diese Geschichte als Reaktion auf die immer wiederkehrenden gegenseitigen Beschimpfungen zwischen den verschiedenen Typen von Transgendern in Internetcommunities geschrieben. Wieso nur können wir einander gegenseitig weniger Toleranz entgegenbringen, als das der Rest der Menschen tut? Welche Gründe hat das?
Doch genug Vorrede, jetzt erzähle ich euch die Geschichte vom weißen Flamingo.

Es war einmal ein Flamingo, dem irgendwann klar wurde, dass er dazu geboren war, nicht wie die anderen Flamingos am See rosa zu sein. Sondern dass er, um glücklich sein zu können, ein weißer Flamingo werden müsse.

Unser Flamingo brauchte lange Zeit, um die schwierige Entscheidung zu treffen, dass er tatsächlich weiß werden musste. Die Entscheidung war so schwierig, weil es ein harter und langer Weg ist für Flamingos, weiße Federn zu bekommen und zu behalten! Sie müssen eine strenge Diät einhalten und die Ernährung komplett umstellen. Denn die Rosafärbung kommt von den Krebsen, von denen die Flamingos normalerweise leben. Insofern war die Entscheidung für unseren Flamingo hart. Er durfte keine Krebse mehr essen, nur noch Fischchen. Das brachte die Gefahr mit sich zu verhungern, denn Fischchen gab es im Gegensatz zu Krebsen nicht viele im See.

Aber unser Flamingo wusste, dass er es tun musste. Denn er hasste sein rosa Gefieder, und er nahm die Erschwernis auf sich. Er verzichtete für die weiße Farbe seines Gefieders dauerhaft auf Krebse. Er fraß nur noch Fischchen. Für den Rest seines Lebens. Weil die Fischchen knapp waren, ärgerte er sich über andere Flamingos, die ihm gedankenlos die wenigen Fischchen wegfraßen, obwohl es doch auch genug Krebse gab. Unser weißer Flamingo litt Hunger. So waren es gerade die Flamingos mit dem hellsten rosa, die unser weißer Flamingo am wenigsten leiden konnte. Er fand, sie fraßen seine Nahrung nur aus Spaß und fügten ihm damit Schaden zu.

Weil es für ihn so schwer war, die weißen Federn zu haben, waren sie ihm mehr wert als sein Leben. Er lebte dafür, weiße Federn zu haben.

Den anderen Flamingos war die Farbe seiner Federn egal. Sie belächelten den weißen Flamingo zwar manchmal etwas. Aber nicht – wie er dachte – weil er weiße Federn hatte, sondern nur, weil sie nicht verstehen konnten, wie jemand bloß um nicht rosa sein zu müssen, den Hungertod riskieren konnte.

Der weiße Flamingo versuchte den anderen zu erklären, warum es ihm so wichtig war, weiße Federn zu haben. Doch die anderen Flamingos wollten das gar nicht hören. Warum auch? Ihre eigene Federfarbe störte sie nicht und sie wollten selbst keine weißen Federn haben. Warum sollten sie dann weiße Federn besonders interessant finden?

Weil der weiße Flamingo nur noch davon erzählte, dass er weiß sei und wie schwer es sei, weiß zu bleiben, fingen die anderen Flamingos an, ihm auszuweichen. Denn er redete niemals von etwas anderem. Er redete nur von sich und seinen weißen Federn.

Der weiße Flamingo dachte, die anderen würden ihn meiden, weil er weiße Federn hatte. Denn (habe ich das schon gesagt?) die weißen Federn waren der Sinn seines Lebens und sein ganzes Denken drehte sich um sie und er nahm große Entbehrungen auf sich um sie zu behalten. Deshalb konnte er nicht verstehen, dass irgend jemand weiße Federn total unwichtig finden konnte.

Und so war es schwer für unseren weißen Flamingo glücklich zu sein.

Er hat nie gelernt, dass der Unterschied zwischen ihm und den anderen nicht in der Farbe der Federn bestand. Sondern darin, dass ihm die Farbe seiner Federn wichtig war und den anderen nicht.

Du bist kein Flamingo.

Du weißt, wo der wirkliche Unterschied zwischen dir und den anderen liegt. Deshalb weißt du auch, wie viel du mit den anderen gemeinsam hast. Und dass diese Gemeinsamkeiten schwerer wiegen als das Trennende.

Querverweise

© Jula 2006

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