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Allein in Köln

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Im Rahmen einer Tagung in Brühl hatte ich die Chance ab mittags zu verschwinden und ich nutzte die Gelegenheit für meine erste Solo-Shoppingtour. Ich war zwar schon zwei Mal am Tag unterwegs gewesen, doch immer in Begleitung. Nun war die Zeit reif für einen Alleingang.

Dienstag, der 28.1.03

Der zeitliche Rahmen:
Um 13.00 im Hotel, rasieren und schminken, Abmarsch vom Hotel aus durch den Seitenausgang 14.00, zu Fuß zur U-Bahn, 14.20 ab Brühl-Mitte bis zum Dom
Rückfahrt ab Köln-Neumarkt ca. 19.10, Brühl Süd ca. 19.40. Hotel ca. 19.50

Durch zu kräftiges Aufdrücken beim Rasieren hatte ich rote Flecken am Kinn und die waren anfangs auch durch das Camouflage hindurch sichtbar. Das kommt davon, wenn man es nicht nur besonders gut, sondern auch noch schnell machen will.

Als ich gerade mit dem Schminken beschäftigt war, hat irgendeine Servicedame versucht, das Zimmer zu betreten. Sie ist aber sofort verschwunden, als sie sah, dass jemand im Zimmer war. Puh, eigentlich kein Problem, doch mein Puls ist sofort auf 130.

Meine Kleidung (anfangs): graue Palazzohose, hautfarbene Wolford 15, bordeauxrotes Spaghettitop, graue Jacke mit Fellkragen, blaues Tuch, Anorak, schwarze Halbschuhe.

Los geht’s

Vor der langen Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel habe ich doch ein wenig Angst. Alle Leute haben nichts anderes zu tun, als die anderen Fahrgäste anzustarren und man kann nicht ausweichen. In meiner Fantasie sehe ich mich schon als das „Highlight der Woche“ für eine Gruppe gelangweilter Teenager. Beim Warten an der Haltestelle drücke ich mich so unauffällig wie es nur geht im „Hintergrund“ rum. Ein Jugendlicher guckt immer mal wieder mit ernster Miene in meine Richtung.

Ich habe mich in der U-Bahn ganz nach vorne begeben. Weil es Tickets angeblich beim Fahrer gab (und weil ich dann niemandem ins Gesicht gucken muss). Das mit den Tickets stimmte aber nicht. Den Automaten habe ich erst gesehen, als ich mich schon mit der Angst angefreundet hatte, schwarz zu fahren.

Schon nach einer Station setzt sich auf den Platz mir gegenüber ein kleiner Junge von 8-10 Jahren und seine Mutter neben mich. Kinder sind doch so ehrlich! Er schaut mich an und denkt sich offensichtlich nix bei mir! Ich muss total unauffällig sein! Mein Selbstbewusstsein steigt!

Köln, Domplatte: totaler Sturm, ich habe Angst, dass esmir die Mütze vom Kopf reißt. Ich versuche so unauffällig wie möglich, die Haare festzuhalten. Doch wie unauffällig kann es sein, mit einer oder beiden Händen auf demKopf über einen Platz zu laufen? Ich sollte über so dünne Haarspangen nachdenken!

Shopping

Kaum bin ich in der Fußgängerzone, schon sind die Füße wundgelaufen! Rechts und links ist jeweils die 4. Zehe oben aufgescheuert. Wo ist der M. Spath Schuhladen??? Eine verzweifelte und schmerzhafte Suche beginnt. Sind längere Haare schlecht für den Orientierungssinn?

Endlich im Schuhladen! Zunächst bin ich die einzige Kundin. Ich werde von der Verkäuferin zuvorkommend und ohne die geringste Spur von Irritation behandelt. Alles, was mir halbwegs gefällt, probiere ich an. Ein schöner Schuh ist in 44,5 etwas groß und in 44 etwas knapp (komisch, sonst habe ich 45!!). Inzwischen erscheint als 2. Kundin eine kleine, alte Frau, der ich auch egal bin. Ich kaufe den Schuh in 44,5. Die Zahlung erfolgt mit meiner (männlichen) EC-Karte, kein Problem. Die neuen Schuhe (Cremefarbene Pumps) bleiben an, die alten kommen in die Tüte.

Im Vorbeigehen kaufe ich schöne Ohrringe für billig Geld bei Six. Eine junge Frau, die „meine“ Ohrringe auf dem Tresen beim bezahlen sieht, findet die auch schön. Wir haben einen kurzen Wortwechsel ohne einen Hauch von Irritation über meine Erscheinung oder Stimme.

Durst. Ich setze mich in ein Cafe in der Olivandenpassage. Niemand (auch nicht die Frauen am Nachbartisch) beachtet mich. Auch die Bedienung zeigt selbst dann keinen Hauch von Irritation als sie meine Stimme hört. Es gibt nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder ist Köln noch viel queerer als ich dachte oder ich bin wirklich so unauffällig, wie ich es gerne wäre.

Treppensturz

Weil die Sohlen meiner neuen Schuhe noch s..glatt sind, rutsche ich mit Riesenradau 3 Stufen runter und knalle mit linkem Knöchel und Oberschenkel auf die Stufen. Zum Glück ist außer Schmerzen nichts passiert. Eine besorgte Verkäuferin will sich um mich kümmern, doch ich lehne ab und verschwinde fluchtartig. Später erst sehe ich die Schürfwunde am Knöchel. Wunder-Wolford: die Strumpfhose ist an der Stelle nicht kaputt! Mir wird heiß und kalt bei dem Gedanken an eine ernsthafte Verletzung und einen Spontanbesuch in der Notfallambulanz.

Bei C&A gibt’s für 29 € eine blaue Steppjacke und sogar die Ärmel sind lang genug, Größe 48, naja die Schultern. Ich probiere mehrere Röcke (wie vorher schon im Kaufhof). Ein langer grauer hat’s mir angetan, wadenlang mit Reißverschluss vorne, cool! Passt aber nur in Größe 46! Waaaah! Diät!! Er kostet stolze 45 €, wird aber trotzdem gekauft!

Das Halstuch nervt und in dem Anorak schwitze ich. Außerdem, wieso laufe ich in einer Hose rum, wenn ich auch nen Rock (den Neuen!) anziehen könnte? Wo umziehen? Im Kaufhof suche ich mir eine Umkleide. Die sind da klein, unbequem und haben keinen Spiegel drin! Naja, muss gehn.

Ich habe Angst, nach dem Klamottenwechsel nun eventuell aufzufallen, da fast nur Frauen in Hosen unterwegs sind. Ich verabrede mit mir einen Versuch: probiere es mit Rock und neuer Jacke mal aus und wenn ich mich unwohl fühle, mache ich es wieder rückgängig. Außerdem bin ich unsicher (aber nur ein bisschen) ob alles von Stil her zusammen passt.

Unterwegs in den neuen Sachen

Inzwischen habe Jacke, Rock, Schuhe und Ohrring getauscht. Ich falle nach wie vor nicht auf, habe nur den Eindruck, dass einige Männer nun genauer gucken. Okay. Ich zeige zum ersten Mal in nennenswertem Umfang Bein und ziehe sogar den Reißverschluss am Rock ein wenig hoch. Ich fühle mich total wohl. Es fühlt sich alles einfach prima an. So bleibe ich bis zurück ins Hotel!

Ich suche die Toilette im C&A und werde von der Klofrau direkt weggeschickt, weil die Damentoilette besetzt ist. Tja, auf die Herrentoilette kann ich ja schlecht gehen.

Was nun? Langsam schwindet die Lust am Shoppen. 150 € sind ausgegeben und die Füße tun weh. Soll ich jetzt zurück? Und dann? Wo Abendessen? Als Frau ins Restaurant in Brühl?? Nö! Ich gehe wieder in die Passage, setze mich ins Getriebe und bestelle (weibliches Essen!) Salat und Rotwein. Wieder keine Reaktionen (Kellner, Passanten, Kundschaft) auf meine Erscheinung. Ahh, tut das gut!

Ich habe etwas Bammel vor der Rückfahrt. Wird das wieder so glatt gehen? Am Bahnsteig schaut mich eine Frau ziemlich intensiv anwährend ich warte. Die U-Bahn ist voll, erst gibt’s nur nen Stehplatz, später habe ich sogar einen Sitzplatz. Niemand interessiert sich für eine 190 cm hohe Frau mittleren Alters. Das bleibt so bis Brühl-Süd.

Draußen ist Sauwetter! Gewitter mit Regen und Hagel. Ich haste so schnell es die schmerzenden Füße und die Schicklichkeit zulassen durch den Sturm Richtung Hotel. Ich nutze jetzt mein Tuch als Kopftuch. He, das ist praktisch!

Zurück im Hotel

Ramada. Ich flitze durch den Haupteingang direkt am Portiertresen vorbei. Dahinter steht eine junge Frau, die mich freundlich lächelnd grüßt.
Ab ins Zimmer: JAAAAAAAA!

Später: auch nach dem Abschminken und wieder in männlicher Kleidung habe ich das Gefühl, nicht glaubwürdig männlich zu sein. Auch der Barmann schaut irgendwie komisch. Wahrscheinlich Einbildung.

Resümee:

Ich war tatsächlich Frau! Ich war kein verkleideter Mann! Keine Witzfigur, aber auch keine tragische. Selbst auf meine Körpergröße und meine Stimme hat niemand irritiert reagiert. Es war einfach „normal“ und es wäre (abgesehen von meinen Gefühlen) auch nicht anders gewesen, wenn ich als Mann unterwegs gewesen wäre. Da mich im Wesentlichen niemand beachtete, war es für meine Umwelt egal! Wie viele Leute habe ich im Verdacht, mich entlarvt zu haben? In 6 Stunden maximal 10, eher 5 oder 6! Vielleicht haben mich aber sogar eine Menge Menschen als Mann identifiziert, doch dann war es ihnen offensichtlich auch gleichgültig!

Es ist toll, mal ohne schlechtes Gewissen oder Angst vor blöden Blicken weibliche Kleidung, Schuhe und Accessoires durchzustöbern und auch anzuprobieren.

Die Nichtbeachtung, die ich erfahren habe, hat mir viel Bestätigung vermittelt. Teilweise war es sogar ein Gefühl von Macht. Es ist der Sieg meines Willens über die Wahrnehmung der anderen. Die Macht, die Leute eine Frau sehen zu lassen, wo eigentlich(?) ein Mann ist.

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© Jula 2003

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