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BVerfG 2 BvR 1833/95

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BVerfG 2. Senat 2. Kammer, Kammerbeschluss vom 15. August 1996, Az: 2 BvR 1833/95

Stattgebender Kammerbeschluss: Grundrechtlicher Schutz der Intimsphäre nach GG Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 für die Achtung vor der in TSG § 1 vorgesehenen Rollenentscheidung

Orientierungssatz

1. Die Frage der Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen betrifft seinen Sexualbereich, den das GG als Teil der Privatsphäre unter den verfassungsrechtlichen Schutz von GG Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 gestellt hat. Die Achtung dieses Bereichs von staatlichen Organen schließt die Pflicht ein, die individuelle Entscheidung eines Menschen über seine Geschlechtszugehörigkeit zu respektieren.

2. Der eigentlichen Geschlechtsänderung auf Grund geschlechtsanpassender Operation („große Lösung“) nach TSG §§ 8ff kann gem TSG §§ 1 bis 7 als Vorstufe eine Vornamensänderung vorausgehen („kleine Lösung“). Die rechtlich anerkannte Vorwirkung von TSG § 1 unterfällt in vollem Umfang dem grundrechtlichen Schutz der Intimsphäre nach GG Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1. Deshalb fordert es die Achtung vor der in TSG § 1 vorgesehenen Rollenentscheidung, eine Person nach Änderung ihres Namens ihrem neuen Rollenverständnis entsprechend anzureden und anzuschreiben.

3. Hier: Die Auffassung des Gerichts, eine transsexuelle Person nach bereits vollzogener Namensänderung, aber noch vor dem Geschlechtswechsel ihrer personenstandsrechtlichen Geschlechtszuordnung entsprechend anzusprechen, wird schon dem Ausnahmevorbehalt des TSG § 10 Abs 1 nicht gerecht und verkennt zum anderen den grundrechtlich geschützten Achtungsanspruch gegenüber einer Vornamensänderung nach TSG § 1.

Verfahrensgang

vorgehend OLG Karlsruhe 12. Juli 1995 3 Ws 294/94
vorgehend LG Mannheim 9. November 1994 StVK 18 -B- 431/94

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob eine transsexuelle Person nach rechtskräftiger Änderung ihres Vornamens von Verfassungs wegen mit der ihrem neuen Namen entsprechenden Geschlechtsbezeichnung anzusprechen ist.

I.

Die Beschwerdeführerin, die eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, empfindet sich trotz männlicher biologischer Ausstattung als dem weiblichen Geschlecht zugehörig. Ihrem Antrag entsprechend wurde ihr ursprünglich männlicher Vorname gemäß § 1 des Transsexuellengesetzes (TSG) mit Gerichtsbeschluss vom 18. April 1994 in einen weiblichen geändert. Dessen ungeachtet wurde sie – in einer Männerhaftanstalt untergebracht – von den mit ihr befassten Vollzugsmitarbeitern teilweise weiterhin mit „Herr …“ angesprochen; auch in dem sie betreffenden Schriftverkehr verwendete die Vollzugsverwaltung weiterhin die männliche Anrede.

Einen Antrag der Beschwerdeführerin an die Anstaltsleitung, sie nunmehr ausschließlich als Frau anzusprechen, beschied diese abschlägig. Die betreffenden Mitarbeiter seien ohnehin angewiesen, gegenüber der Beschwerdeführerin möglichst eine neutrale, jedenfalls nicht die männliche Geschlechtsbezeichnung zu verwenden. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies die zuständige Landesjustizverwaltung als unbegründet zurück, wobei sie die Ansicht vertrat, die Anrede „Herr“ oder „Frau“ sei eine Geschlechtsbezeichnung. Da aber lediglich der Vorname der Beschwerdeführerin geändert worden sei, ihre rechtliche Stellung als Mann davon jedoch unberührt bleibe, müsse sie von Rechts wegen weiterhin mit „Herr …“ angeredet werden.

Gegen diesen Bescheid trug die Beschwerdeführerin auf gerichtliche Entscheidung an. Die zuständige Strafvollstreckungskammer vertrat mit Beschluss vom 9. November 1994 die Ansicht, der von ihr in Anspruch genommenen weiblichen Anrede stehe § 10 Abs. 1 TSG entgegen, der eindeutig bestimme, dass sich die vom Geschlecht abhängigen Rechte erst ab Rechtskraft der Geschlechtsumwandlungsentscheidung nach dem neuen Geschlecht bestimmten. Da eine Entscheidung nach den §§ 8 ff. TSG im Fall der Beschwerdeführerin bislang nicht vorliege, könne diese auch eine weibliche Anrede nicht verlangen. Das mit der Rechtsbeschwerde angerufene Oberlandesgericht bestätigte den landgerichtlichen Beschluss am 12. Juli 1995 lediglich mit der Erwägung, dass eine dem neuen Status der Beschwerdeführerin entsprechende weibliche Anrede zwar durch die Höflichkeit geboten sei; ein einklagbarer Rechtsanspruch jedoch insoweit nicht bestehe.

II.

Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte auf Achtung ihrer Menschenwürde und ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). In den angegriffenen Entscheidungen werde durchweg verkannt, dass ihr seit Änderung ihres Vornamens ein verfassungsrechtlich geschützter Rechtsanspruch gegen jedermann auf Verwendung der weiblichen Anredeform zustehe. Jede Missachtung dieses Rechts verletze sie in ihren Grundrechten.

III.

Das Justizministerium Baden-Württemberg hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Es entspreche der Konsequenz der gesetzgeberischen Entscheidung für die sogenannte „kleine Lösung“ (§§ 1 ff. TSG), dass die Beschwerdeführerin rechtlich nach wie vor als Mann zu behandeln sei. Im allgemeinen Sprachgebrauch orientiere sich die Anrede am Geschlecht und nicht am Vornamen; ein Grundrechtsverstoß liege darin nicht.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§§ 93a Abs. 2 lit. b, 93b Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet; die insoweit maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 11. Oktober 1978 (BVerfGE 49, 286 ff.) bereits entschieden. Die Kammer ist damit auch zur Sachentscheidung berufen (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen in der Individualität, in der er sich selbst begreift. Dieser Verfassungsgrundwert gewährleistet zugleich in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG die Freiheit des Individuums, sich seinen Fähigkeiten und Kräften entsprechend zu entfalten. Aus der Achtung der Menschenwürde und dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit folgt das Gebot, den Personenstand des Menschen dem Geschlecht zuzuordnen, dem er nach seiner psychischen und physischen Konstitution zugehört (vgl. BVerfGE 49, 286 <298>). Die Frage, welchem Geschlecht sich ein Mensch zugehörig empfindet, betrifft dabei seinen Sexualbereich, den das Grundgesetz als Teil der Privatsphäre unter den verfassungsrechtlichen Schutz der Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gestellt hat (vgl. BVerfGE 47, 46 <73>; 60, 123 <134>; 88, 87 <97>). Jedermann kann daher von den staatlichen Organen die Achtung dieses Bereichs verlangen. Das schließt die Pflicht ein, die individuelle Entscheidung eines Menschen über seine Geschlechtszugehörigkeit zu respektieren.

2. Auslegung und Anwendung des Transsexuellengesetzes (TSG) bestimmen sich nach diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen.

Das Transsexuellengesetz vom 10. September 1980 (BGBl I S. 1654), dessen Entstehung auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Oktober 1978 (BVerfGE 49, 286 ff.) zurückgeht, sieht für den Geschlechtswechsel eine abgestufte Regelung vor. Der eigentlichen Geschlechtsänderung auf Grund geschlechtsanpassender Operation („große Lösung“) nach den §§ 8 ff. TSG kann danach gemäß §§ 1 bis 7 TSG als Vorstufe eine Vornamensänderung vorausgehen („kleine Lösung“), die es nach dem Willen des Gesetzgebers der transsexuellen Person erlauben soll, schon frühzeitig – seiner psychischen Befindlichkeit entsprechend – in der Rolle des anderen Geschlechts aufzutreten (vgl. die Entwurfsbegründung zum TSG <BTDrucks 8/2947> unter Nr. 2.5). Die Vorwirkung der Vornamensänderung stellt damit einen Fall der ausdrücklich vorbehaltenen anderweitigen gesetzlichen Bestimmung im Sinne des Grundsatzes nach § 10 Abs. 1 TSG dar, der die Rechtswirkungen der Geschlechtsumwandlung von der Durchführung des Verfahrens nach §§ 8 ff. TSG abhängig macht. Dabei kann nicht zweifelhaft sein, daß die rechtlich anerkannte Vorwirkung des § 1 TSG in vollem Umfang dem grundrechtlichen Schutz der Intimsphäre nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG unterfällt.

Für das Auftreten in einer bestimmten Geschlechtsrolle ist nach allgemeinem Verständnis die Anredeform („Herr …“/ „Frau …“) von zentraler Bedeutung. Deshalb fordert es die Achtung vor der in § 1 TSG vorgesehenen Rollenentscheidung, eine Person nach Änderung ihres Namens ihrem neuen Rollenverständnis entsprechend anzureden und anzuschreiben. Nur dieses Verhalten wird der geschilderten gesetzgeberischen Absicht des § 1 TSG gerecht; nur diese Auslegung des § 1 TSG erscheint auch mit der Wertentscheidung der Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar.

3. Der Regelungsgehalt, den die hier angegriffenen Entscheidungen den §§ 1, 10 Abs. 1 TSG beigelegt haben, wird weder dem Transsexuellengesetz noch den Grundrechten der Beschwerdeführerin gerecht.

a) Die Rechtsauffassung des Landgerichts, § 10 Abs. 1 TSG gebiete es, eine transsexuelle Person nach bereits vollzogener Namensänderung, aber noch vor dem Geschlechtswechsel ihrer personenstandsrechtlichen Geschlechtszuordnung entsprechend anzusprechen, wird schon dem Ausnahmevorbehalt des § 10 Abs. 1 TSG nicht gerecht. Zum anderen übergeht das Landgericht die Selbstverständlichkeit, dass sich die Anrede einer Person („Herr …“ bzw. „Frau …“) nach dem rechtlich anerkannten Selbstverständnis dieser Person bezüglich ihrer selbst empfundenen Geschlechtszugehörigkeit zu richten hat, die auch in dem ihr gerichtlich zuerkannten Vornamen zum Ausdruck kommt. Damit verkennt das Landgericht jedoch zugleich den grundrechtlich geschützten Achtungsanspruch, der einer Vornamensänderung nach § 1 TSG entgegenzubringen ist.

b) Das Oberlandesgericht räumt der Beschwerdeführerin zwar ein, dass die Anpassung des Sprachgebrauchs an die Vornamensänderung der Achtung ihrer Menschenwürde entspreche. Gleichwohl kommt es zu dem Ergebnis, ein „einklagbarer Rechtsanspruch“ bestehe insoweit nicht. Damit lässt das Gericht ebenfalls eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG erkennen, die verfassungsrechtlich keinen Bestand haben kann.

4. Da die angegriffenen Entscheidungen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen, sind sie aufzuheben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen (§§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG).

Der Beschwerdeführerin sind ihre notwendigen Auslagen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG zu erstatten.

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