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Seitenwechsel

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Wenn man so wie ich als genetischer Mann weiblich gestylt in der Öffentlichkeit unterwegs ist, dann gibt es einen gewissen Erklärungsbedarf. Wie kann man sich nur so verrückt verhalten und als Mann versuchen, in bestimmtem Umfang weiblich zu sein?

Ich sehe die Sache genau anders herum. Da ich nur meine Bedürfnisse kenne, kann ich nicht verstehen, wie man leben kann, ohne das zu tun. Nun ja, so unverständlich mir die anderen an dieser Stelle sind, ich bin diejenige, die sich mit ihrem Verhalten in der Minderheit befindet. Deshalb gibt es immer wieder die Notwendigkeit, „es“ zu erklären.

Es ist gar nicht so leicht, ein eingängiges Bild dafür zu finden, was ich mache. Es sollte „Nichtbetroffenen“ einen einfachen Zugang zu der Frage geben, was ich davon habe und was es für mich heißt, die Welt weiblich zu erleben.

Ihr seht und sagt: Warum? –

Aber ich träume und sage: Warum nicht?

George Bernard Shaw

Stell dir vor, du sitzt in einem U-Bahn-Wagon

In meinem Gedankenspiel sind Männer und Frauen wie Leute, die immer auf verschiedenen Seiten der U-Bahn sitzen. Die Sitzreihen in der Berliner U-Bahn sind nicht wie in einem Bus oder in einem Eisenbahnwagon angeordnet, sondern sie liegen sich gegenüber.

Die U-Bahn fährt in Berlin weite Strecken oberirdisch, ja sogar auf einer Hochbahntrasse über den Straßen. Wenn man in so einem Wagon unterwegs ist, schaut man während der Fahrt durch die dem Sitz gegenüberliegenden Fenster auf die Stadt.

Blick von oben in den Wagon

Stell dir vor, die Frauen sitzen immer auf der einen Seite des Wagons und die Männer sitzen immer auf der anderen.

Alles andere ist gleich: der Fahrpreis ist der gleiche, die Strecke ist die gleiche, die Sitzbänke sind auch nicht unterschiedlich. Es ist nicht besser oder schlechter auf einer der Seiten. Es gibt auf keiner der beiden Seiten Sensationen zu bewundern, bloß normale Ansichten der Stadt. Aber man sieht anderes, während man in der U-Bahn unterwegs ist. Die Stadt ist die gleiche, doch sie präsentiert sich anders, weil Frauen und Männer durch die Fenster ihnen gegenüber jeweils etwas anderes von ihr sehen. Sogar die Bahnhöfe sehen anders aus, denn die einen sehen den Bahnsteig mit den Leuten, während die anderen die Wand oder Fensterfront sehen. Im nächsten Bahnhof ist es vielleicht umgekehrt.

Außerdem sind auch die Beziehungen zu den Mitfahrenden anders. Die Männer haben Männer neben sich und sitzen den Frauen gegenüber. Die Frauen haben die Frauen neben sich und die Männer gegenüber. So unterschiedlich die Männer bzw. Frauen jeweils sind, sie haben die Perspektive gemeinsam. Sie sehen während der Fahrt die Reaktionen der gegenüber Sitzenden. Manchmal können sie sie nachvollziehen, manchmal nicht. Je nachdem, ob sie den Auslöser sehen konnten oder nicht.

Wenn Männer und Frauen sich über ein Stück der Fahrt unterhalten, stellen sie fest, dass der andere manchmal fast das gleiche, manchmal aber auch ganz etwas anderes gesehen hat.

Blick von der Männerseite

Was würde ich eigentlich von der Stadt sehen, wenn ich auf der anderen Seite säße?

Die meisten Menschen sind mit ihrem Platz im Wagon zufrieden. Sie kämen nie auf die Idee, sich auf die andere Seite zu setzen. Sie sind auf ihrer Seite des Wagons glücklich und zufrieden. Vielleicht bedauern sie sogar ein wenig die Menschen auf der anderen Seite, weil sie das Sitzen auf ihrer Seite genießen. Es genügt ihnen, sich mal kurz umzudrehen, wenn hinter ihnen etwas interessantes ist, das sie nicht verpassen wollen. Was sie sehen gefällt ihnen oder es genügt ihnen.

Vielleicht kommt ihnen auch nie der Gedanke, dass es möglich ist, sich auf die andere Seite zu setzen. Zumindest haben sie nicht das Gefühl etwas zu verpassen, bloß weil sie immer auf der einen Seite sitzen.

Manche Menschen, zugegeben nicht viele, sind anders. Sie sind so wie ich. Sie haben das Gefühl, ihnen würde etwas vorenthalten, weil, sie dauernd auf der einen Seite sitzen müssen. Sie sind neugierig. Sie stellen sich Fragen.

Blick von der Frauenseite

Wie mag es sein, eine Frau neben sich zu haben?
Wie mag es sein, den Männern gegenüber zu sitzen?
Wie ist es, die Welt zwar nicht mit den Augen einer Frau, aber aus der Perspektive einer Frau zu sehen?
Wie reden die Frauen mit dir, wenn sie dich als Gleiche sehen?

Kurz und gut: es gibt Menschen, die eine unstillbare Sehnsucht danach haben, auf der anderen Seite des Wagons zu sitzen. Ich habe diese Sehnsucht.

Der Wechsel auf die andere Seite des Wagons

Und dann taucht die Überlegung auf, dass man ja bloß aufstehen muss, und sich einen freien Platz auf der anderen Seite suchen muss.

Was ich tue, ist nichts anderes als der Versuch, auf die andere Sitzbank zu kommen und zu sehen, was die anderen sehen, deren Erfahrungen zu machen. Wenn ich mich komplett umstyle und als Frau in der Welt unterwegs bin, dann versuche ich, auf der Bank gegenüber Platz zu nehmen.

Und dort genieße ich die andere Perspektive:

  • da sind Gebäude, die ich kenne, die ich aber nun ganz anders sehe
  • da sind Gebäude, die ich von der anderen Seite aus noch nie gesehen habe
  • sehe ganz neues in einer vertrauten Stadt.
  • sie ist die gleiche und doch ganz anders
  • Langweiliges wird plötzlich interessant

Wenn ich von den anderen Menschen nicht besonders beachtet werde, dann ist das für mich ein Zeichen, dass ich tatsächlich auf der anderen Bank sitze. Ich werde so behandelt, als gehörte ich dort hin, als würde ich immer dort sitzen. Die Frauen behandeln mich als eine der ihren und die Männer als wäre ich „eine von denen“.

Plötzlich bin ich Schulter an Schulter mit den Frauen, sehe sie von der Seite und nicht mehr von vorn. Und umgekehrt sehe ich mir gegenüber die Männer, ich sehe sie nun aus der Frauenperspektive.

Was ändert sich durch diesen Platzwechsel?

Ich selber bleibe ja im Grunde gleich, ich werde dadurch, dass ich auf die Seite der Frauen wechsele, keine keine andere Person und schon gar nicht werde ich eine „richtige“ Frau. Ich nehme nur die Perspektive der Frauen ein. Trotzdem ist die Veränderung nicht trivial sondern sie umfast meine Erfahrungen, Interessen und sogar meine Bedürfnisse.

Zunächst und vor allem ändern sich meine Erfahrungen

  • ich erlebe mich selbst anders
  • ich erlebe die Welt anders
  • andere Dinge sind interessant, weil ich andere sehe
  • ich werde anders behandelt

Auch meine Interessen ändern sich. Teils freiwillig, weil ich anderes sehe und mir deshalb Dinge wünsche, auf die ich auf der anderen Seite nie gekommen wäre. Teils unfreiwillig, weil ich anderen Anforderungen ausgesetzt bin.

In gewissem Umfang ändern sich sogar meine Bedürfnisse: Ich brauche Dinge, die ich sonst nicht gebraucht hätte. Ich brauche Wissen, dass ich sonst nicht gebraucht hätte. Ich werde kein anderer Mensch, aber der gleiche Mensch benötigt doch anderes

Die Erwartungen und Anforderungen an mich ändern sich ebenfalls. Die Frauen erwarten anderes von mir und auch die Männer.

Wie häufig und wie lange ich auf der anderen Seite sitzen möchte, ist die Frage nach der Ausprägung meiner Neigung. Ich z.B.kann mich zwischen den beiden Perspektiven nicht entscheiden. Ich wechsele hin und her, ohne auf eine Seite verzichten zu können.

So in etwa ist das mit meiner Neigung: ich habe das Bedürfnis ab und zu auf der „Frauenseite zu sitzen“.

Was ich nicht verstehe…

Und weil ich diese unstillbare, ununterdrückbare Sehnsucht habe, die tief in mir drin ist, kann ich mir nicht vorstellen wie es ist, sie nicht zu haben:

Wie kann man Tag für Tag immer auf der gleichen Seite sitzen wollen?

Wie kann man so zufrieden mit seinem Sitzplatz sein, dass man nie auch mal einen anderen ausprobieren möchte?

© Jula 2006

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