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Mein Gender ist politisch!

  • von
Parade

Mein Geschlecht mag Privatsache sein, mein Gender ist es nicht!

Lange Zeit habe ich gedacht, die Sache mit meiner Transidentität sei so ziemlich das Persönlichste, was es gibt. Da geht es um mich und darum wie und wer ich für die Menschen bin, die mir nahe stehen.

Je mehr ich mitbekommen habe, wie viele Emotionen es zu dem Thema Gender ganz allgemein in der Bevölkerung gibt, umso mehr ist mir bewusst geworden, dass es gar nicht so sehr um mich geht.

In dem Moment, in dem ich mich mit erkennbar männlicher Genetik als Frau in die Öffentlichkeit begebe und erwarte, als Frau anerkannt zu werden, wird mein Verhalten politisch. Durch solche Personen wie mich werden andere Menschen darauf gebracht, dass ihre Sicht der Welt keine Selbstverständlichkeit ist. Sie werden plötzlich mit einem anderen Modell von Geschlecht konfrontiert. Es prallen zwei Arten, die Welt zu sehen, aufeinander.

Indem ich tue, was ich tue, werde ich zur Repräsentantin für eine bestimmte Sicht der Welt.

Weshalb ist das politisch?

Wenn ich von Leuten verlange, dass sie mich sozial als Frau akzeptieren, dann hat das neben der persönlichen Komponente auch eine gesellschaftliche. In dem Moment, wo Menschen mich akzeptieren, relativieren sie eine Position, die für sie immer eine Selbstverständlichkeit war. Das nehmen die meisten zwar locker, doch tatsächlich ist es eine große Sache.

Wenn sich das gesellschaftliche Modell von Gender ändert, dann ändert sich unsere Gesellschaft grundlegend. Das hat Auswirkungen nicht nur für die Betroffenen, sondern für alle Menschen in der Gesellschaft. Denn schließlich haben sie alle ein (oder mehrere ;-)) Gender. Wenn sich das Modell ändert, dann wird damit auch die individuelle Selbstdefinition in Frage gestellt.

Vielleicht ist das den meisten Menschen nicht bewusst. Aber sie fühlen es. Das ist die Erklärung für den erbitterten Widerstand und die heftigen Emotionen, die in unserer Gesellschaft aufkommen, wenn von (meist feministischen) Genderaktivist*innen das Modell selbst oder auch nur seine natürliche Selbstverständlichkeit in Frage gestellt werden. Wer das bezweifelt muss nur die Kommentarspalten unter Artikeln von oder über Lann Hornscheidt oder Judith Butler lesen.

Das aktuelle Modell erodiert

Dabei verkennt der gesellschaftliche Mainstream, dass das so selbstverständlich erscheinende Modell schon lange nicht mehr bruchlos in unseren modernen Rechtsstaat passt.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom Januar 2011 zum TSG dafür gesorgt, dass das rechtliche Verständnis vom sozialen Geschlecht nicht mehr an den Genitalien anknüpft. Das Urteil beseitigte die Voraussetzung von geschlechtsangleichenden Operationen für die Änderung des Personenstandes. Eine Frau oder ein Mann ist seit dem, jede Person, die diesen Personenstand hat, unabhängig von den Genitalien.  

Also gibt es momentan in unserer Gesellschaft mindestens drei verschiedene Konzepte zu Gender:

  • Die Mehrheit der Menschen ist überzeugt, dass sich das soziale Geschlecht zwingend aus den Genitalien ergibt
  • Das deutsche Recht knüpft losgelöst von den körperlichen Eigenschaften das soziale Geschlecht allein an den dokumentierten Personenstand
  • Eine Minderheit ist der Überzeugung, dass sich Gender allein nach der Selbstdefinition richtet

Speziell die Rechtslage ist nicht bloß Theorie, sondern sie hat schon ganz reale Folgen. So gibt es in Deutschland inzwischen schon echte Ehen (und nicht bloß Lebenspartnerschaften) zwischen zwei Männern oder zwei Frauen. Und es gibt Frauen, die Kinder zeugen können, sowie Männer, die schwanger sein können.

Allerdings ist diese modellverändernde Bedeutung dieser Wirklichkeit in der Breite der Gesellschaft noch nicht angekommen.

Gender ist besonders kritisch

Es gibt Wahrheiten, denen mehr oder weniger universelle Geltung zugesprochen wird. Das ist so eine Art Grundbestand, auf dem vieles andere aufbaut. Dazu gehört das Thema „Was ist ein Mann oder eine Frau?“. Die Zuordnung jeder Person zu einem von zwei Geschlechtern aufgrund körperlicher Eigenschaften ist Teil dieses Grundbestandes. Hier wird selbstverständlich vorausgesetzt, dass das alle gleich sehen.

Bezüglich vieler Aspekte der Welt ist es zugestanden, dass man unterschiedlicher Meinung sein kann oder unterschiedlich viel darüber wissen kann. Besseres Wissen oder eine andere Meinung werden akzeptiert, vielleicht sogar erwartet.  Selbst solche Fragen wie „Gibt es einen Gott?“ sind in unserer Gesellschaft problemlos in dem Bereich angesiedelt, in dem man unterschiedlicher Meinung sein kann.

Für die meisten gesellschaftlichen Modelle ist es anerkannt, dass eine gewisse Unsicherheit immer bleibt. Definitionen werden nie zu 100% geteilt und an den Rändern der Begriffe gibt es immer Regionen des Zweifels. Das ist unvermeidlich und letztlich nicht schlimm.

Bessere Modelle ersetzen vertraute Modelle

Das gilt insbesondere für unser Wissen über die Natur. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse verändern unseren Blick auf die Welt und in der Folge unsere Modelle. So war bis vor einiger Zeit allgemein anerkannt, dass alle höheren Lebewesen entweder Pflanzen sind oder Tiere. Dieser eindeutigen Trennung folgend, waren Pilze Teil der Pflanzenwelt. Heute wissen wir, dass Pilze weder Pflanzen noch Tiere sind. Sie bilden ein eigenes Reich von Lebewesen, die sich signifikant von Pflanzen einerseits und Tieren andererseits unterscheiden. Wir haben umgelernt und niemanden hat es groß gestört, dass Pilze plötzlich keine Pflanzen mehr sind. Es gab jedenfalls keine wütenden Kommentare und Leserbriefe in Zeitschriften dazu.

Den Grund dafür habe ich schon benannt: es fehlt die persönliche Betroffenheit. Sobald die Modelle von der Welt nicht abstrakt sind (wie z.B. Quantenphysik …), sondern konkrete Auswirkungen auf das Selbstbild der Menschen haben, wird es emotional. Ich sage nur: Evolutionstheorie!

Insofern ist das Unverständnis vieler Genderaktivist*innen bezogen auf den gesellschaftlichen Widerstand naiv. Sie glauben, es ginge nur darum, dass die Gesellschaft einer kleinen Gruppe etwas zugestehen müsse ohne dass sich dadurch gesamtgesellschaftlich etwas ändern würde. Deshalb erstaunt es sie, warum so eine kleine, harmlose Begriffsänderung so starke, emotionale Gegenwehr hervorruft. Doch die Frage, welches Modell von Gender eine Gesellschaft hat, betrifft nun einmal alle Menschen.

Wir sind Aktivist*innen wider Willen!

Wenn wir uns also durch unsere öffentliche Selbstdarstellung geschlechtlich in bestimmter Weise präsentieren, dann ist das zwangsläufig ein politischer Akt. Wir wollen das nicht, aber wir tun es. Wir können es nicht vermeiden, wenn wir uns ausdrücken wollen.

Die wenigsten Transgender wollen Trans-Aktivist*innen sein. Die meisten von uns wollen einfach nur friedlich und möglichst selbstverständlich in dieser Gesellschaft leben. Sie wollen nicht den Begriff unserer Gesellschaft von Geschlecht ändern und keine veränderten Gendernormen propagieren. Warum auch? Die meisten von uns sind selbst fest und zweifelsfrei davon überzeugt, dass sie Normen richtig sind.

Deshalb ist es vielen von uns sehr wichtig, die eigene Besonderheit möglichst vor der Welt zu verbergen. Die einen tun das, indem sie ihrer Identität nur im privaten Bereich, innerhalb ihrer eigenen vier Wände Ausdruck verleihen. Andere versuchen im Geschlecht ihrer Identität so unauffällig wie nur möglich zu sein. Dazu nehmen sie medizinische Hilfe in jeder nur denkbaren Form in Anspruch. Insbesondere genetisch männliche Transpersonenmüssen weite Wege gehen. Ihr Körper hat sich ab der Pubertät unter dem Einfluss von Testosteron geformt. Haarausfall auf dem Kopf, Bartwuchs und Körperbehaarung, Körpergröße, Gesichtszüge, Stimme … es gibt so viele Bereiche in denen sie nicht den Normerwartungen an eine „richtige“ Frau entsprechen. Sie akzeptieren die Norm und versuchen ihr gerecht zu werden.

Doch solange noch ein Transmann als genetische Frau und eine Transfrau als genetischer Mann erkennbar bleibt, ist diese Person – ob sie es will oder nicht – eine wandelnde Kritik am herrschenden Modell von Gender.

Was tun, wenn die Realität nicht zum Modell passt?

Die Tatsache der Existenz von Menschen wie uns  lässt sich, selbst bei größter Anstrengung von Seiten der Betroffenen unsichtbar zu sein, nicht beseitigen. Deshalb gibt es letztlich nur zwei Möglichkeiten, um die Diskrepanz zwischen Realität und Modell zu überwinden.

Entweder man bringt die vom Modell abweichenden Menschen zum verschwinden. Diese Option existiert in einer Gesellschaft, die die Menschenrechte anerkennt und wirksame Grundrechte kennt, nicht.

Oder man tut gesellschaftlich das, was im Rechtssystem ansatzweise schon vollzogen wurde: man ändert das Modell.

Schlussfolgerungen

  • So sehr ich mir das anders wünschen mag: Gender ist keine Privatsache, sondern politisch.
  • Menschen, die sich von mir provoziert fühlen, meinen vielleicht weniger mich. Sondern sie haben das Gefühl, dass durch mich ihr Weltbild bedroht wird.
  • Wenn sich die Definition eines Begriffs ändert, ändert sich unser Bild von der Welt und im schwierigsten Fall auch unser Selbstbild.
  • Das wird noch ein langer Weg!

© Jula Böge 2016

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