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Das 1. Mal

  • von

Montag, 17.Dezember 2001

Ich kann gar nicht glauben, dass ich mich tatsächlich getraut habe.

Als ich mich entschieden hatte, bereits am Vorabend des Termins nach Freiburg zu reisen, reifte langsam – zunächst nicht bewusst – der Gedanke, dass dies die Chance/Gelegenheit war, auf die ich schon länger gewartet hatte. Durch eine Bemerkung meiner Frau, die, wie ich nun weiß, nicht die Bedeutung hatte, die ich ihr zugemessen hatte, fühlte ich mich zudem ermutigt. Dabei sagte sie bloß etwas in der Richtung, dass ich den Aufenthalt schon genießen würde.

Erst als ich am Morgen meine Tasche packte, entschloss ich mich, auch meine Perücke mitzunehmen.

Am Vormittag an der Arbeit, wurde mit während einer Besprechung, in der ich Zeit zum Nachdenken hatte, immer klarer, dass ich es gerne wagen würde, wenn es nur die örtlichen Gegebenheiten zuließen. Die Schmetterlinge im Bauch, die der Gedanke daran hervorrief, begleiteten mich den Rest des Vormittages, beim Mittagessen und während der Fahrt.

Wie geplant machte ich einen kleinen Abstecher nach Metzingen zu Boss. Natürlich besichtigte ich auch die Damenabteilung, doch lange Damengrößen gab es überhaupt nicht, 2. Wahl für Damen in Größe 44 war – wie Größe 44 insgesamt – knapp und größere Größen noch seltener. Ein paar Sachen für den Mann in mir waren die Ausbeute. Direkt benachbart sind Outlets von Escada und Bally, doch bei beiden gab es nichts für Jula.

Dann ging es weiter über die Autobahn nach Freiburg. Bald war es komplett dunkel und während dieser Fahrt durch die Nacht plante ich die vorbereitende Ortserkundung. Viertel vor 7 war ich dann angekommen. Das ICE-Hotel liegt direkt am Bahnhof. Es ist groß und anonym. Das Auto hatte ich in die Tiefgarage des Bahnhofs gestellt. Gibt es da keinen direkten Zugang zum Hotel, bei dem man nicht am Portier vorbei muss? Mein Zimmer ist 609, im 6. Stock. Im Lift gibt es eine Beschilderung „Tiefgarage“. Aha! Das Zimmer liegt schräg gegenüber vom Lift, keine 10m Risikostrecke. Prima. Wegen meines größeren Vorhabens später am Abend, treibe ich zunächst keinen Aufwand: Ohrring, neues Boss-Shirt, matt-schwarze Strumpfhose unter meiner Männerhose, Halbschuhe.

Mit dem Auszug fahre ich zunächst in die Tiefgarage – kein Mensch zu sehen. Dann gehe ich hoch auf die Straße und ab in die Innenstadt. Ich habe Hunger, doch vorher will ich bis 20.00 Uhr noch ein wenig Shoppen. Ich probiere verschiedene Schuhe bei C&A, denn ich suche immer noch geschlossene Schuhe mit flachen Absätzen, die man auch mal zu einer Herrenhose tragen kann. Nur einer passt halbwegs. Es ist ein schwarzen Hochfrontslipper mit Lack und Stretch in Größe 9 ½ (44). Ich probiere auch noch den 2. Insgesamt sind die Schuhe doch etwas knapp, doch preiswerte, schöne Schuhe in meiner Größe sind schwer zu finden. Ich muss sie halt einlatschen. Auf dem Weg zur Kasse im Erdgeschoss fällt mir noch eine Bluse aus glänzendem, satinähnlichem Stoff ins Auge. Größe 48 – gekauft.

Ein paar Häuserecken weiter werden die Halbschuhe gegen die neuen Slipper getauscht. Schön, aber wirklich etwas zu eng. Die Schuhe sind nicht ganz unauffällig für einen Mann, doch niemand bemerkt etwas. Im Kaufhof kaufe ich kurz vor 8 Uhr noch einen dunkelroten Lippenstift, weil die von mir mitgenommenen für mein Projekt zu wenig rot sind. Dann streife ich durch die Gassen auf der Suche nach Essen und Bier.

Ich finde eine Brauereiwirtschaft, Erlebnisgastronomie, recht groß. Ein wenig unsicher, ob jemand meine Schuhe komisch findet, durchwandere ich das Lokal und suche mir einen Platz in einer Ecke. Während ich aufs Essen warte, telefoniere ich mit meiner Frau. Soll ich sie über meinen Plan informieren? Ich lasse es, obwohl ich glaube, dass sie mir nicht abraten würde.

So gegen 9 Uhr bin ich wieder im Hotel. Vorher habe ich nochmal in der Tiefgarage vorbeigeschaut. Ah, die Tür zum Hotel ist von der Garage her nicht zu öffnen, doch es gibt eine Rufanlage zur Rezeption. Oben checke ich auch noch den Weg über die Treppe, falls mir der Aufzug dann doch zu riskant ist.

Im Zimmer beginne ich mit dem Styling. Beim Rasieren bin ich zu gründlich. Eine blutende Wunde am Adamsapfel verlangt Wartezeit. Make-up, Puder, Lidschatten, Eyeliner, der neue Lippenstift und schließlich die Perücke. Ein kritischer (aber nicht allzu sehr!) Blick in den Spiegel: Naja, im Dunkeln mag es gehen. Ich ziehe die neue Bluse und meinen langen, schwarzen Rock an, dazu meine schwarzen Lackstiefel, die etwa bis zum Saum des Rockes reichen. Spontan entschließe ich mich, mein blaues Tuch doch nicht (wie eigentlich geplant) als Kopftuch, sondern als Halstuch im Ausschnitt meiner dunklen (Männer-)Winterjacke zu tragen.

Ich nehme in der Papiertasche von Boss noch meine neuen Damenschuhe mit, obwohl ich sie eigentlich nicht mehr anziehen kann, denn die Füße haben von dem Marsch vorhin mehrere schmerzende Druckstellen bekommen. Die Tasche nehme auch deshalb mit, weil es femininer wirkt, so als würde ich nicht bloß rumlaufen, sondern als käme ich vom Shopping. Ich kontrolliere mehrmals, ob ich alles habe, was ich brauche oder brauchen könnte. Ein letzter Blick in den Spiegel, durchatmen, Licht aus und dann, nach einem Kontrollblick durch den Türspalt in den leeren Flur, raus.

Der Aufzug, der scheinbar ewig auf sich warten lässt, bringt mich einsam in die Tiefgarage. Als ich bei meinem Auto noch eine Packung Taschentücher hole, sehe ich auf die Entfernung einen Mann an seinem Auto. Keine Ahnung, ob der mich registriert hat. Das Parkhaus ist hell erleuchtet und niemand weiter zu sehen. Auf dem Bahnhofsvorplatz komme ich beim Busbahnhof an die Oberfläche. Jetzt bin ich endgültig in der Öffentlichkeit. Ich bin zwar keine Frau, doch ich werde jetzt für eine Frau gehalten. Hoffentlich! 

Es ist 20 Minuten vor 10 Uhr. 10m entfernt steht ein Bus mit mehreren Fahrgästen drin. Sie schauen nicht in meine Richtung. Ich gehe über eine Fußgänger- und Radfahrerbrücke zunächst in die der Innenstadt entgegengesetzte Richtung. Es kommen einige Radfahrer, die nicht auf mich reagieren. Ich denke schon darüber nach, ob ich nicht mit der Straßenbahn in die Innenstadt fahre.

Während ich noch überlege, kommen mir die ersten Personen zu Fuß entgegen. Ein Mann … keine Reaktion, noch ein Mann … wieder keine Reaktion. Jetzt kommt ein Pärchen, sehen aus wie Studenten. Ich schaue dem Mädel ins Gesicht … sie mustert mich, ihre Gesichtszüge verändern sich, ein leicht belustigter Anflug von Erstaunen. Wir gehen aneinander vorbei. Sie hat es gemerkt, oder? Ich drehe mich um, hoffe, dass ich mich geirrt habe, doch ich sehe, dass sie mir nachschaut. Sie hat es bemerkt! Mein Passing ist offensichtlich viel mieser als ich hoffte, denn hier ist noch nicht mal richtig hell. Was jetzt? Weiter! Aber ich muss vorsichtiger sein. Die hell erleuchtete Tram ist gestrichen. Das traue ich mich jetzt nicht mehr.

Ich gehe weiter durch ein Wohngebiet entlang des Bahnhofsgeländes. Ich begegne niemandem mehr von nahem, werde wieder mutiger und wende mich Richtung Innenstadt. Radfahrern und Fußgängern (Männer) falle ich nicht auf, auch nicht in einer hellen Unterführung. Dann bin ich an einer großen Kreuzung mehrspuriger Straßen, hell erleuchtet. Ich warte auf grün für Fußgänger. Dabei achte ich auf parallele Fußstellung beim Stehen, den Kopf habe ich leicht geneigt, damit mir die Haare ins Gesicht fallen und der Blick auf meine große Nase nicht so frei ist. Ich überquere die breite Kreuzung ohne in die wartenden Autos zu sehen und gehe weiter eine große Straße entlang Richtung Fußgängerzone.

Rechts auf einem Hof steht ein Mann und pinkelt in die Büsche. Er sieht, dass ich ihn gesehen habe. Ich kriege ein wenig Angst, doch er folgt mir nicht. 150m weiter ist eine Bushaltestelle an der Straße, direkt am Bürgersteig. Es warten eine etwas ältere Frau mit Kinderwagen und ein Mann. Der Bürgersteig wird dort so schmal, dass ich ganz dicht vorbei muss, sie müssen sogar noch ein wenig Platz für mich machen. Ich bin wegen des Mädels vorhin immer noch sehr verunsichert. Ruhig, nicht beschleunigen, auf den Boden gucken, vorbei, Blick zurück …die haben wohl nichts bemerkt, sie waren zu sehr mit dem Baby beschäftigt. Wieder Passanten, alte Leute diesmal, die nicht reagieren.

Ich wende mich in Richtung auf Nebenstraßen, die ich schon von vorhin kenne. In einem Schaufenster sehe ich mich im Spiegel an. Nicht wirklich schlecht, doch ich sehe deutlich meine männlichen Gesichtszüge unter der Schminke. Obwohl ich eigentlich Menschen suche; damit sie mich NICHT erkennen, versuche ich nun doch zu vermeiden, dass mir entgegenkommende Fußgänger (speziell Frauen!) zu nahe kommen und mir lange ins Gesicht sehen können. An einer dunklen Ecke tausche ich nun doch die Stiefel gegen die Halbschuhe, denn da bin ich glatt 4cm kleiner (aber immer noch über 1,90m), doch die Druckstellen von vorhin schmerzen noch zu sehr. Wieder Schuhtausch. Vor mir geht nun ein Paar. Die Frau trägt einen Rock und Stiefel ähnlich wie ich, bloß mit flacheren Absätzen. Mir fällt auf, das praktisch alle Frauen, die ich bisher gesehen habe, Hosen getragen haben.

Hier sind jetzt nicht allzu viele Leute unterwegs, ich schaue keinem ins Gesicht. Etwas später wieder die Situation, vor der ich jetzt Angst habe: ein Paar kommt mir auf dem Bürgersteig entgegen. Keine Chance auszuweichen, keine Deckung. Ich darf sie nicht ansehen, schaue nach unten. Als wir aneinander vorbei sind, warte ich einen kurzen Moment, drehe mich um und sehe, dass sie mir bis gerade eben nachgeschaut hat. Auch sie hat mich durchschaut.

Ein Paar vor mir besteigt sein Auto, das auf „meiner“ Seite geparkt ist. Sie freuen sich über ein ausgebliebenes Strafmandat. Denen bin ich wohl nicht aufgefallen. Trotzdem bin ich mittlerweile so verunsichert, dass ich meine, dass jeder in mir den verkleideten Mann erkennt. Nach einigen dunklen Gassen muss ich die hell erleuchtete Hauptstraße der Innenstadt überqueren. Drei junge Frauen auf Fahrrädern kreuzen meinen Kurs, zwingen mich zum Anhalten. Die letzte blickt mich an und schon wieder habe ich das Gefühl, durchschaut worden zu sein.

Jetzt gehe ich in Richtung Hotel, mir reicht es für dieses erste Mal. Ich gehe langsam und mit gesenktem Blick. Ich denke inzwischen, dass jeder, der mir näher als 10m kommt, meine Verkleidung als solche erkennt. An einer Ampel warte ich wieder auf grün. Direkt neben mir bremst ein Radfahrer. Ich drehe mich von ihm weg, halb den Rücken zugewandt, damit die Haare mein Profil weitgehend verdecken und er mir nicht ins Gesicht schauen kann. Ich will nicht spüren, erkannt worden zu sein, ohne weglaufen zu können.

Beim langsamen Gehen werde ich von einer jungen Frau überholt, die schaut sich nicht nach mir um. Kurz vor dem Bahnhof, an einer hellen Stelle kommt mir plötzlich um eine Ecke herum ganz nah eine Frau entgegen, auch die hat mich wohl erkannt. Jetzt noch an einer Fußgängerampel über die große Straße. Gegenüber steht wieder mal eine junge Frau. Ich schaue nicht hin, als wir aneinander vorbei gehen, auch nicht zurück. Ich mag nicht wissen, ob sie mich erkannt hat und mir nachschaut. 

Am Eingang zur Tiefgarage kämpft ein Mann mit dem Kassenautomaten. Ich warte, bis er weg ist. Die Tiefgarage ist wie gehabt hell und menschenleer. Obwohl ich vorher schon nach Kameras geschaut und keine gefunden habe, überlege ich kurz vor der Zugangstür zum Hotel, mit welcher Stimmlage ich um Einlass bitten soll. Natürlich normal, männlich.

Die letzte Spannung löst sich, als Lift und Flur menschenleer sind. Zimmer auf, rein, Jacke und Tuch weg, noch mal ein Blick in den Spiegel. Sah meine Frisur die ganze Zeit so zerzaust aus? Ich ziehe auch die Perücke ab und lasse mich rückwärts aufs Bett fallen. Ich habe es geschafft! Es ist etwa halb 11 Uhr. Ich war fast eine Stunde als Frau in Freiburg unterwegs! Und jetzt habe ich Durst. Zunächst aber wasche ich das Make-up runter. Die Haut im Gesicht ist von der Rasur immer noch sehr gereizt und brennt.

Die letzte Entscheidung fällt gegen die Hotel- und für die Minibar und ich genieße den Gedanken an mein Abenteuer mit einem Bier.

Was bleibt nun? Was ist das Fazit?

  • Die Aufregung vorher war größer als die Überwindung dann tatsächlich rauszugehen und draußen zu sein
  • Frauen sind, was die Entdeckungsgefahr betrifft, sehr viel gefährlicher als Männer
  • Ich werde es wohl wiederholen, doch ich muss die Entdeckungsgefahr vermindern, weil mich das Erkanntwerden verunsichert und mir die Freude nimmt.
  • Alleine gehen ist schwer. Eine einzelne Frau fällt auf, zumal wenn sie mit Absätzen deutlich über 190 cm hoch ist. Frustrationserlebnisse kann man nicht im Gespräch verarbeiten und man hat keine Chance auf schnelle Deckung. Ich hätte den Spaziergang mehr genießen können, wenn ich in Begleitung gewesen wäre.
  • Man kann Ausgänge auch wagen, wenn man nicht perfekt ist, doch man muss sich aufs Erkanntwerden einstellen.
  • Ich bin so froh und stolz, dass ich mich getraut habe!

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© Jula 2001

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